Duisburg. In Marxloh gelingt es der Graf-Recke-Stiftung, jugendliche „Systemsprenger“ zurück in die Gesellschaft zu holen. Wie sie das anstellt.

Für ihr Angebot muss keine Werbung gemacht werden: Jugendamtsleiter aus ganz Deutschland kommen in die vier WG‘s in Duisburg-Marxloh und Bissingheim, nach Solingen und Leichlingen, weil alle Sorgenkinder haben, manche sie Systemsprenger nennen: Jugendliche, die in keine Schublade passen, die mit dem Kopf durch die Wand wollen und die in kein reguläres Hilfeangebot der stationären Jugendhilfe passen.

Die hochindividualisierte Betreuung der Graf-Recke-Stiftung füllt diese Lücke mit zehn Plätzen für solche Teenager. Es ist ein System, in dem sie nach anfänglichem Fremdeln freiwillig bleiben, Bindung aufbauen. Ein System, das sie nicht sprengen wollen, das sie aushält. Wie erfolgreich das Konzept ist, wird derzeit wissenschaftlich untersucht, die Ergebnisse sollen im Sommer vorliegen.

Hochintensive Betreuung für „Systemsprenger“ in Marxloh

Die Kosten für die Betreuung tragen die Jugendämter, sagt Fachbereichsleiterin Sabine Brosch von der Stiftung. Die Jugendlichen kommen mit Diagnosen aller Art, viele haben Traumata durchlitten, gelten als seelisch behindert, Drogen, Alkohol, Straffälligkeiten gibt es on top.

Sie kommen mit einem großen Rucksack voller Probleme an, sind sehr verletzt, beschreibt die Expertin. „Wir packen alles in Ruhe aus und gucken, wie man mit all den Päckchen leben kann.“ Ein Stück des Wegs helfen sie auch beim Tragen.

Die Kinder und Jugendlichen seien oft völlig haltlos, ohne familiäre Bindung. „Hier gibt es ein Gegenangebot, hier wird kein Druck gemacht, die Tür ist offen und die Bewohner sind herzlich willkommen“, beschreibt Brosch die Grundhaltung aller Fachkräfte. Rund um die Uhr ist ein Zweierteam vor Ort. Hochintensiv und hochindividualisiert meint einen Personalschlüssel von über elf vollen Stellen auf drei Bewohner.

Ohne Druck lernen, eigenverantwortlich zu lernen

Wer bei wilden, aggressiven Kids, bei gesellschaftlich als Hammerwerfern wahrgenommenen Teenies als Lösung an Bootcamps denkt, in denen sie nur mal Benimm und Regeln lernen müssten, denen entgegnen die Pädagogen, dass das allenfalls die Kinder breche. Wer nur durch Druck spurt, könne keine Eigenverantwortlichkeit lernen, sind sie überzeugt.

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Stattdessen helfen die Fachkräfte, nach einem oft monatelangen Prozess des Ankommens, eine Lebensrichtung aufzuspüren: „Wollen sie zur Schule gehen oder ein Praktikum machen? Künftig in der Stadt oder auf dem Land leben? Wir wollen mit ihnen positiv in die Zukunft schauen“, so Brosch, dazu müsse erst Vertrauen aufgebaut werden.

Die Jugendlichen lernen: Ihre Entscheidungen haben Konsequenzen

Klar werden aber auch die Konsequenzen: Du gehst nicht zur Schule? Dann hast du keinen Abschluss. Du zertrittst den Fernseher? Dann gibt es keine Fernsehzeit. Du begehst Straftaten? Dann erwarten dich ein Prozess und womöglich eine Haft. Aber egal, wie du dich entscheidest, wir sind an deiner Seite, betont Lambertz, wir gehen auch mit ins Gericht. „Wir sind für dich da!“, beschreibt die Pädagogin ihre Grundhaltung. Wie lange? „Es dauert so lang, wie es dauert“, sagt sie entspannt, im Schnitt zwei bis drei Jahre.

Die Familienberatung ist ebenfalls Teil des Programms in den Kleinstgruppen. „Die meisten haben viel aufzuarbeiten mit ihren Eltern. Und egal was war, sie wünschen sich immer, wieder, mit ihnen zusammenleben zu können“, sagt Brosch. „Wir suchen Wege, das zu gestalten.“ Wenn es nicht gelinge, sei hier aber auch der Platz, darüber traurig zu sein.

Eine lohnende Investition nennt Pressesprecher Dr. Roelf Bleeker von der Graf Recke Stiftung das Angebot in Marxloh.
Eine lohnende Investition nennt Pressesprecher Dr. Roelf Bleeker von der Graf Recke Stiftung das Angebot in Marxloh. © FUNKE Foto Services | Kerstin Bögeholz

Lohnende Investition in die Jugendlichen

Das alles kostet: Zeit und Geld, Empathie und Nerven. Aber die Investition sei lohnend. Eine Jugendliche, die zuvor chronisch selbstmordgefährdet war und zweieinhalb Jahre in einer geschlossenen Psychiatrie lebte, konnte nach ihrer Zeit in einer der Wohngruppen nun erstmals in eine eigene Wohnung ziehen, berichtet Lambertz stolz. Die gesellschaftlichen Folgekosten für Jugendliche, bei denen dieser Wandel nicht gelingt, so Pressesprecher Dr. Roelf Bleecker, seien um ein Vielfaches höher. Sie landen in Forensiken oder Gefängnissen und kosten ein Leben lang.

Einen positiven Lebensweg könne sie natürlich nie versprechen, sagt Lambertz. Für einzelne könne der Weg auch in eine forensische Klinik führen, „aber es sind Jugendliche, die eine Chance verdient haben“. Die „Erfolge“ sind manchmal sehr klein. Da ist die 12-Jährige, die nur am Bahnhof rumhing und täglich mit Drogen und Prostitution konfrontiert war. In der WG hatte sie erstmals einen Ort, an dem sie bleiben konnte, an dem sie einen positiv gemeinten Spitznamen bekam. „Wenn dieses Mädchen nur noch zweimal im Monat am Bahnhof ist, dann ist das immer noch kindeswohlgefährdend, aber besser als vorher“, sagt Lambertz. „Wir halten aus, was andere vorher nicht aushalten konnten.“

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>>DIE GRAF-RECKE-STIFTUNG

  • Die Graf-Recke-Stiftung mit Sitz in Düsseldorf ist eine diakonische Organisation, die deutschlandweit Förderschulen und Kitas, Einrichtungen der Behinderten- und Altenhilfe sowie Kinder- und Jugendhilfe betreibt.
  • Im Geschäftsbereich Erziehung und Bildung, der Wohn- und Tagesgruppen, Einzelbetreuung und vieles mehr verantwortet, werden über 1700 Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen betreut.
  • Die Uni Bochum begleitet das Projekt wissenschaftlich. Erste Ergebnisse der Evaluation sollen im Sommer vorliegen.