Duisburg. Connor war ein Systemsprenger, ein kaum zu bändigender Jugendlicher, bis er in eine WG der Graf-Recke-Stiftung in Marxloh zog. Was hier möglich wurde.

Was macht man bloß mit Kindern und Jugendlichen, die als „Systemsprenger“ bezeichnet werden, die reihenweise aus allen pädagogischen Angeboten herausfliegen, als unbeschulbar gelten und mehr Kontakt mit der Polizei als der eigenen Oma haben? Ihnen die volle Aufmerksamkeit schenken, sagt die Graf-Recke-Stiftung.

Sie betreibt seit Oktober 2021 in Marxloh eine hochindividualisierte Betreuung. Bis zu drei Jugendliche ab 14 Jahren können hier einziehen. Für sie ist rund um die Uhr jemand da, 11,5 Stellen werden hier investiert und die Engelsgeduld erfahrener Fachkräfte.

Wohngruppe für Systemsprenger in Marxloh: „Wir müssen sie erst mal aushalten“

„Wir müssen sie erst mal aushalten“, sagt Teamleiterin Stefanie Lambertz. Die Diplom-Pädagogin hat ihren Schlafsack schon ausgerollt, wird hier als Nachtbereitschaft schlafen, während eine Kollegin mit wachen Augen Dienst tut. Hier ist immer mindestens ein Tandem im Dienst, und zur Not ist gegenüber noch das Personal einer anderen Wohngruppe. Wenn man sich die behelfsmäßig mit Spanplatte reparierte Tür anschaut, bekommt man eine Idee davon, warum das sinnvoll sein kann.

Connor grinst bei dem Gedanken an den Tritt durch die Tür verlegen. „Ich hatte so meine Ausraster“, sagt er. Früher schon, wenn er seinen Willen nicht bekam, später dann, „wenn mir Leute blöd gekommen sind“. Er zog Ostern 2022 in Marxloh ein. Jedenfalls theoretisch. „Ich bin erst mal abgehauen.“ Aus dem Auto raus und weg.

Von der Minimalbeschulung zur größtmöglichen Selbstständigkeit

Der Junge hat schon einige Einrichtungen durch, keine passte zu ihm, resümiert Lambertz. Es war einfach immer zu viel: zu viele Mitbewohner, zu viele Regeln, zu viele Erwartungen, die Pandemie kam noch obendrauf. „Er hatte richtig viel Stress, es ging ihm nicht gut“, erinnert sich Fachbereichsleiterin Sabine Brosch an die erste Zeit. Mehr als eine Minimalbeschulung zwei Stunden täglich in einer Förderschule seien nicht drin gewesen.

Mit maximaler Freiheit und ohne Druck gelingt es dem Team um Pädagogin Stefanie Lambertz, Vertrauen zu den Jugendlichen aufzubauen.
Mit maximaler Freiheit und ohne Druck gelingt es dem Team um Pädagogin Stefanie Lambertz, Vertrauen zu den Jugendlichen aufzubauen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Bögeholz

In der Anfangszeit brachte ihn Teamleiterin Lambertz zur Schule, blieb in der Nähe, falls es Ärger gab oder er abhauen wollte. „Wir wollten einen weiteren Abbruch verhindern“, sagt sie. Der Aufwand hat sich gelohnt, Connor ist kürzlich ausgezogen in eine Wohngruppe. Stolz zeigt er den Transponder für seine Appartementtür, es sind die Insignien seines neuen Lebens. Er ist allein mit der Bahn zu Besuch gekommen, von der Arbeit aus. Man könnte sagen, er hat das System gedribbelt.

„Wir waren nicht die einzigen Zauberer“, betont Lambertz, Connor sei auch ein paar Monate in einer Klinik gewesen. Diese Einrichtungen können die Teenager zur Not auch mal festhalten, „das dürfen und wollen wir nicht“, betont Brosch.

Fachbereichsleiterin Sabine Brosch von der Graf Recke Stiftung in Duisburg Marxloh ist überzeugt von der Wirksamkeit intensiver Zuwendung für schwierige Jugendliche.
Fachbereichsleiterin Sabine Brosch von der Graf Recke Stiftung in Duisburg Marxloh ist überzeugt von der Wirksamkeit intensiver Zuwendung für schwierige Jugendliche. © FUNKE Foto Services | Kerstin Bögeholz

„Auf den alten Connor passt das Wort Systemsprenger“

Der Connor, der Türen zerstört und abhaut, „der ist ganz weit weg von mir“, sagt der neue Connor. Das Wort „Systemsprenger“ findet er doof, „aber auf den alten Connor passt es“. Auch die Graf-Recke-Stiftung arbeitet nicht mit dem Begriff. Meist sei nicht der Jugendliche das Problem, sondern die Familie, das Umfeld, die gesellschaftlichen Mechanismen: „Wenn Kinder aufwachsen und der ganze Alltag nur Krise und Konflikt ist, dann kann man sich nicht gut entwickeln“, sagt Lambertz.

Jugendliche wie Connor, denen es von frühester Kindheit an vielem mangelt, seien Anforderungen nicht gewachsen, „enge Systeme halten sie nicht aus und das System hält sie nicht aus“, beschreibt die Pädagogin. Die meisten Jugendlichen sagen: „Ich will gar nicht so sein, ich kann grad aber nicht anders“, zitiert Lambertz ihre Klienten.

Warum Döner deeskalierend wirken kann

Sie ist es gewohnt, dass die Jugendlichen erst mal austesten, wie weit sie gehen können, auch im Wortsinne: Ihre Bewohner habe sie schon in allen Ecken Deutschlands abgeholt und zurückgefahren in ihr Zuhause auf Zeit. Entwicklungsarbeit könne erst starten, wenn Vertrauen entstanden ist.

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Dazu gehöre auch, einen entwichenen Jugendlichen nach seiner Rückkehr nicht zu reglementieren, sondern erst mal etwas zu essen anzubieten. Ihre Bedürfnisse gleichen denen von Kleinkindern: Nach langen Phasen des Mangels brauchen sie vor allem Nähe und regelmäßige Mahlzeiten, Döner seien mitunter ein wirksames Deeskalationsmittel, beschreiben die Pädagoginnen. Zugleich reden sie wie 50-Jährige, mit einer Lebenserfahrung, die ihrem verrückten Lebensweg entspricht.

In Krisen wird die Polizei gerufen

Krisen und Konflikte gehören in dieser Wohngemeinschaft dazu, „das kriegen auch die Nachbarn mit, wenn wir häufiger die Polizei rufen müssen“, sagt Brosch. Alle Mitarbeiter haben ein Deeskalationstraining gemacht, haben Erfahrung in systemischer, traumasensibler Pädagogik.

Sich selbst bringen sie aber nicht in Gefahr, manchmal brauche es zupackende Polizeibeamte. Bei signifikanten Sachbeschädigungen werden Anzeigen gestellt, „die Jugendlichen müssen lernen, dass es Konsequenzen hat, wenn man Wasser in einen Dienst-Computer kippt“.

Connor richtet sich in seinem neuen Leben ein

Connor hat seine Lektion gelernt. Aktuell macht er in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung ein Jahr der Berufsfindung. Die Hürden dafür seien hoch gewesen, weil infrage gestellt worden sei, ob Connor in diese Einrichtung für Menschen mit seelischen Behinderungen passt, ob er gruppenfähig ist. „Von uns ist das nie infrage gestellt worden“, sagt Lambertz.

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Jetzt macht er Erfahrungen in der Wäscherei, die sei aber „langweilig“, bald geht es zurück in die Abteilung Lager/Vertrieb „das macht mir Spaß“.

In seinem neuen Leben spielt er abends Karten mit Freunden, genießt durchtanzte Nächte bei Raves in Köln. In die Marxloher WG kommt er jetzt nur noch zu Besuch, freiwillig, gerne. Es trifft wohl den Kern dieser hochindividualisierten Betreuung. Sie bietet den Jugendlichen mehr Freiheit und ermöglicht eine Bindung - über die Zeit in der WG hinaus.

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