Duisburg. Für die Bildungswende gehen derzeit zigtausende auf die Straße. In Duisburg träumt eine Schule von Zeiten ohne Fächer, ohne Klausuren, ohne Abi.

Bundesweit gehen Menschen auf die Straße, um ein Umdenken beim Thema Schule zu fordern. Mit zwölf Lehrerkollegen, über hundert Schülern und dem Musikprojekt Bahtalo hat die Duisburger Green-Gesamtschule am Bildungsprotesttag in Köln teilgenommen. Dabei wird die Wende hier längst gelebt.

Wohl auch deshalb gehörte Schulleiterin Nicole Schlette zu den Rednerinnen. Warum unterstützt sie die Forderungen von „Bildungswende Jetzt“?

[Nichts verpassen, was in Duisburg passiert: Hier für den täglichen Duisburg-Newsletter anmelden.]

1. Mehr Bildungsgerechtigkeit

An der Rheinhauser Schule seien viele talentierte Menschen, die aus den Elternhäusern aber nicht die größten Startchancen mitbekommen. „Sie bräuchten die besten Lehrer, die ihnen die wichtigsten Dinge beibringen“, findet Schlette. Die besten Lehrer landen aber nicht zwangsläufig an Brennpunktschulen und der Lehrplan sei „voll mit unnützen Dingen“. Außerdem sei zumindest in Rheinhausen „allen klar, dass Lehrer Schmidt auf Youtube keine Alternative ist, Lernen passiert auf der Beziehungsebene, lernen ist mit Emotionen verbunden“. Und das ist personalintensiv.

2. Schulische Bildung

Das Bildungssystem „ist an vielen Stellen gescheitert“, sagt Schlette, obwohl sie Teil davon ist. „Menschen lernen nicht in Fächern, sondern in Zusammenhängen“, erklärt sie. Auch wenn das Mathe-Lehrer nicht gern hören: Rechnen lernen könne man besser, wenn es inhaltlich sinnvoll ist, unabhängig vom Fach, also auch in Erdkunde oder Englisch.

An der Green-Gesamtschule können die Kinder zumindest an einem Tag in der Woche projektorientiert lernen, die Fächer werden in Themenkomplexen abgebildet. „Das ist geradezu revolutionär“, sagt die Schulleiterin. Allerdings müsste diese Herangehensweise schon in der Lehrerausbildung implementiert werden. Noch so eine Baustelle.

Dem Doppel-Problem volle Klassen/Lehrermangel begegnet die Schule an allen anderen Tagen mit kooperativem Lernen, mit Lernzeiten statt Frontalunterricht: In Kleingruppen werden Themen erarbeitet, die Lehrer werden so zu Lernbegleitern.

3. Die Prüfungen

Über „vollständig unsinnige Prüfungen“ kann sich Nicole Schlette schön in Rage reden. Sie würde gern darüber diskutieren, wie man Klausuren, Zentrale Abschlussprüfungen, Vergleichsprüfungen wie Vera und am besten auch das Abitur ganz abschaffen kann. „Die Schüler lernen nicht, weil sie Gedichte gut finden, sondern weil eine Deutscharbeit ansteht. Danach vergessen sie es wieder. Bei Gesprächen mit Kollegen stellte sie fest, dass auch viele Lehrer nur wenig Wissen aus der eigenen Schulzeit abrufbereit haben.

Warum die Schüler bei Klausuren kaum Hilfsmittel nutzen dürfen oder gar mit anderen kollaborieren, will ihr sowieso nicht in den Sinn: „In der Arbeitswelt arbeitet kaum einer allein, es verlässt sich doch niemand nur auf sein Hirn.“ An der Green-Gesamtschule dürfen die Schüler selbst gestaltete Heftchen mit in die Prüfungen nehmen. Die Angst anderer Schulen vorm Pfuschen „teile ich nicht“.

Wie man eine Befähigung zum Studium nachweisen könnte, habe sie noch nicht zu Ende gedacht, betont Schlette. Aber der „Hype um einen formalen Zugangsweg wie dem Abitur ist unsinnig“, es gebe genug Menschen, die mit einem Einser-Abi im Studium scheitern oder umgekehrt nach einem miesen Abi an der Uni glänzen“.

Auch interessant

Der erste Abi-Jahrgang an ihrer Schule, der jetzt in den Schlussspurt geht, werde dennoch gebührend gefeiert. Viele Kinder haben in der fünften Klasse noch wenig Deutsch gesprochen, hatten eine Hauptschulempfehlung und schafften trotzdem den Sprung in die Oberstufe. „Sie haben meine ganze Hochachtung, ich bekomme jetzt schon Gänsehaut bei dem Gedanken, wenn wir ihnen nächstes Jahr das Abizeugnis überreichen können.“

4. Die Lehrerarbeitszeit

Die Schulleiterin Nicole Schlette von der Green-Gesamtschule in Duisburg hielt in Köln eine Rede bei der Demo „Bildungswende Jetzt“.
Die Schulleiterin Nicole Schlette von der Green-Gesamtschule in Duisburg hielt in Köln eine Rede bei der Demo „Bildungswende Jetzt“. © Green-Gesamtschule

Die Lehrerarbeitszeit muss anders bemessen werden, fordern Pädagogen der Bildungswende. Es brauche mehr multiprofessionelle Teams und dafür auch mehr Geld. Weniger Unterrichtsverpflichtung, mehr Zeit für die Teamarbeit und permanente Fortbildung würde auch an der Rheinhauser Gesamtschule sehr helfen, sagt die Schulleiterin.

Themen, die Familien bewegen, Tipps zur Freizeitgestaltung, Expertenwissen, Rezepte und vieles mehr: Unseren kostenlosen Newsletter für Familien gibt es hier.

Schlette ist seit 2015 an der Schule, die damals mitten im Wandel von einer Sekundar- zu einer Gesamtschule war. Sie baute das Team-Modell und das kooperative Lernen mit auf. Wie frei ist sie denn, Schule anders zu gestalten? „Eigentlich total unfrei“, bedauert sie, es brauche viel Mut. Schulversuche seien bis 2026 verboten, die vorgeschriebene Stundenzahl für einzelne Fächer müsse eingehalten werden.

Braucht es einen Sonderfonds von 100 Milliarden Euro?

Unbedingt, sagt die Pädagogin. Für mehr Personal, für Fortbildungen, für Wohlfühlräume: „Bei unserem Lehrerzimmer überkommt einen das Grausen, das ist Massenmenschhaltung.“ Von fehlenden finanziellen Mitteln lässt sie sich aber nicht abhalten. „Man kann auch gute Schule machen ohne irgendwelche Förderungen“, glaubt Schlette, die inzwischen geübt darin ist, den Mangel zu verwalten.

Innovationen hätten es aber schon deshalb schwer, weil viele mit aller Macht an alten Zöpfen festhalten. Entscheidend sei die Haltung, sich auf Neues einzulassen. Ihr Kollegium sei so gestrickt, inklusive aller Quereinsteiger und Mitarbeitern aus multiprofessionellen Teams.

Auch interessant

Die Schulleiterin Nicole Schlette von der Green-Gesamtschule in Duisburg beteiligte sich an den bundesweiten Protesten für eine Bildungswende. Über 100 Schüler und Schülerinnen und ein Dutzend Lehrkräfte reiste mit nach Köln, das Bahtalo-Ensemble gestaltete die Demo musikalisch mit.
Die Schulleiterin Nicole Schlette von der Green-Gesamtschule in Duisburg beteiligte sich an den bundesweiten Protesten für eine Bildungswende. Über 100 Schüler und Schülerinnen und ein Dutzend Lehrkräfte reiste mit nach Köln, das Bahtalo-Ensemble gestaltete die Demo musikalisch mit. © Green-Gesamtschule

>>BILDUNGSWENDE

  • Die Gründerin und ehemalige Leiterin der Green-Gesamtschule, Martina Zilla Seiffert, nutzt ihre Rente dafür, aktiv im Bündnis „Bildungswende Jetzt“! mitzuarbeiten. Bundesweit seien am Wochenende über 25.000 Menschen auf die Straße gegangen, freut sie sich. „Über 180 Initiativen, alle Gewerkschaften und Teachers for Future haben sich beteiligt.“
  • Die Graswurzelbewegung sei basisdemokratisch und vereine viele unterschiedliche Strömungen. So gebe es zwar jene, die die Forderung „Das Gymnasium muss weg“ unterschreiben würden, Gymnasiallehrer wollen sie aber dennoch für die Mitarbeit und die Debatten gewinnen.
  • Kritisch bewertet sie die Tendenz, dass immer mehr Schulen zu Talentsuchern werden. „Das unterstellt, es seien nicht viele Talente vorhanden, ich finde das gemein und politisch gefährlich.“
  • Eine weitere Demo für nächstes Jahr sei bereits angedacht. Weitere Infos gibt es auf der Webseite https://bildungswende-jetzt.de/