Dinslaken. Mirko Schombert inszenierte in Dinslaken mit dem Burghofbühnenteam „Der Sandmann“ von E. T. A. Hoffmann. Das Ensemble musste öfter wiederkehren.

Olimpia, geschaffen 1816. In ihrer Version „Burghofbühne 2020“ trägt sie ein Akkordeon. Jenes 1828 patentiertes Musikinstrument, das mechanisch atmet, um mit künstlichen Zungen zu singen. Olimpia (Maren Kraus) selbst gleicht einer Porzellanpuppe mit zerzaustem Spitzenkleid und verfilzten Haaren. Ihr Akkordeonspiel ruckelt und hakelt, als müsse die Mechanik geölt werden. Aber wenn sie „All good things (come to an end)“ singt, ist sie ganz Seele. Die Projektion einer Seele. Einer gequälten, leidenden Psyche, die sich nur noch vom eigenen Wunschbild verstanden fühlt. Am Freitag feierte die Burghofbühne Dinslaken die Premiere von E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“ in der Aula der EBGS. Die Aula wurde zum ersten Mal öffentlich genutzt (mehr Info siehe unten).

Die Faszination der Puppenautomaten beruht auf dem Kontrast zwischen dem Zauber ihren fantasievollen Ausstattung mit bunten Kostümen, scheinbar autarken Bewegungen und klingender Musik und dem sachlichen Wissen um ihre Künstlichkeit, gepaart mit der Bewunderung für bis ins Letzte ineinandergreifende Technik: „Wahnsinn!“ rufen die Menschen seit dem 18. Jahrhundert aus, als der Begriff Android geprägt und Realität aus Metall und Wachs wurde.

Gesangsauftritt der Olimpia war der atmosphärisch verdichtete Höhepunkt

Der Gesangsauftritt der Olimpia war der atmosphärisch verdichtete Höhepunkt einer Burghofbühnen-Inszenierung, die dieses Prinzip selbst in sich verkörperte. Mirko Schombert (Inszenierung), Jörg Zysik (Bühne und Kostüme) und Jan Exner (Musik) versinnlichten den Text von E.T.A. Hoffmann in einer Art und Weise, in der die Rädchen Musik, Bühnenspielplatz und Schauspiel perfekt ineinandergriffen. Das Publikum erlebte Hoffmanns Erzählung als eine von allen Akteuren in der dritten Person gesprochenen Textcollage, auf der Bühne mit den Mitteln des Theaters illustriert in einer epochenübergreifenden Mischung aus Romantik, Expressionismus und Moderne.

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Mirko Schombert mag Distanz und Brechungen. So bleiben die Schauspieler zunächst Schauspieler. Malte Sachtleben als psychotischer Nathanael kämpft – wie Hoffmann selbst – um den Einstieg („Es war einmal?“), erklärt den anderen, wie sie ihre Rollen zu spielen haben. Noch erscheint die Kulisse als expressionistisch verbogenes Baugerüst auf mehreren Ebenen. Aber mit jedem gesprochenen Originalsatz werden die Schauspieler mehr zum „Stoff, aus dem die Träume sind“. Alpträume, in diesem Fall.

Misshandlung und Tod des Vaters werden in der Inszenierung verschmolzen

Denn Nathanael wurde durch die Mär vom bösen Sandmann, der Kindern, die nicht einschlafen, die Augen herausreißt und an seine Brut verfüttert sowie durch den Tod des Vaters bei einem fehlgeschlagenen alchimistischen Experiment im eigenen Haus schwer traumatisiert. Er macht dies alles an der Figur des widerlichen Coppelius fest (schauerlich-grotesk: Arno Kempf), der das Kind einst im Studierzimmer aufgriff und misshandelte.

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Misshandlung und Tod des Vaters werden in der Inszenierung verschmolzen. Und dies ist der Moment, von dem an das Publikum mit in die Psychose gezogen wird. Das Bühnengerüst wird zu Nathanaels gewundenen Hirn: Oben sitzt Jan Exner und gibt den Takt vor. Dreimal wird das Trauma wortgleich erzählt. Das erste Mal erlebt das „Hirn“ blitzende Elektroschläge, das zweite Mal wird es zur rhythmisch knirschenden und klappernden Klanginstallation im Stil der Einstürzenden Neubauten. Beim dritten Mal trampeln Coppelius und Nathanaels Geliebte Clara (Lara Christine Schmidt) auf den Boden über dem kauernden, gequälten Menschen. Sie alle sind Stimmen im Kopf.

Das Publikum forderte mehrere Vorhänge

Clara zeichnet ein klarer Verstand aus, sie lässt sich nicht von Nathanael instrumentalisieren. Deshalb kommt es zum Bruch, beschimpft Nathanael sie als „verdammtes, gefühlloses Automat“ (sic!). Ein Satz, der sich einbrennt und den Maschinenmenschen Olimpia gebiert.

Schomberts „Sandmann“ erscheint als ein Hybrid aus Erzählung – selbst die Anrede ans Publikum als „lieber Leser“ bleibt – und bildgewaltiger Handlung, die von Jan Exner in Interaktion mit den anderen Akteuren musikalisch gesteuert wird.

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Manchmal toben Bild und Klang, reißen die Wörter in ihrem eigenen Rhythmus mit oder erzeugen durch den Mix der Stimmen eine Kakophonie. Dagegen bleiben „laute“ Schlüsselszenen wie die Zerstörung Olimpias oder die dramatische Handlung vor Nathanaels Tod leise. Olimpia legt einfach das Akkordeon ab und geht, Nathanael bleibt in der Schlussszene ganz allein als verstörter Erzähler auf der Bühne zurück.

Das Ensemble musste allerdings wiederkehren. Nicht einmal, sondern öfter: Das Publikum forderte mehrere Vorhänge.

>> DER NEUE PREMIERENORT IN DER EBGS

  • Die Aufführung von „Der Sandmann“ durch die Burghofbühne Dinslaken am Freitag war eine doppelte Premiere: Zum ersten Mal wurde auch die neue Aula der EBGS (Ernst-Barlach-Gesamtschule) genutzt. Mit einer Vorabgenehmigung, die offizielle Eröffnung erfolgt zu einem späteren Zeitpunkt.
  • Es ist alles neu und doch vertraut. Architektin Monika Bierwald hat die Grundstruktur mit dem Gang vom Hauptgebäude beibehalten. Er und das Foyer der Aula werden künftig als Aufenthalt im offenen Ganztag genutzt.
  • Die Besucher der Aula gehen im Foyer um die Garderobe und den Getränkeausschank herum in den Saal, der ebenerdig Platz für 295 Stühle bietet. Weitere 100 Plätze gibt es auf den Sichtstufen gegenüber der 80 Quadratmeter großen Bühne, die sich durch eine Trennwand vom Saal separieren lässt. Parkettboden, dunkle Fliesen schwarze Wände und abgedunkelte Scheiben: Die Atmosphäre der Aula bewegt sich zwischen Studiobühne und Liveclub – ein gelungenes Konzept für einen Raum, der Jugendliche als Veranstaltungsort ansprechen soll. Für das Farbkonzept draußen setzte Professor Friedrich Schmuck auf Schwarz, kräftiges Rot und einen Farbton, der Waschbeton entspricht. „Ginster 10“ heißt die Farbe, erklärte Monika Bierwald am Rande der Burghofbühnenpremiere.
  • Mindestens so wichtig wie die Optik aber ist der Sound: Dass die Raumakustik stimmt, davon konnte sich das Theaterpublikum bereits am Freitag überzeugen.