Dinslaken. Die Menschen dachten an die schrecklichen Ereignisse der Reichspogromnacht. Warum es aber auch heute wichtig ist, Antisemitismus entgegenzutreten.
Leise Klarinettenklänge und Stimmengewirr drangen gestern Vormittag aus dem Stadtpark auf die Straße. Der Evangelische Kirchenkreis Dinslaken hatte zu einer Gedenkfeier zur Reichspogromnacht am „Judenkarren“, dem Mahnmal von Alfred Grimm für die Kinder des jüdischen Waisenhauses eingeladen – und zahlreiche Menschen waren gekommen, um Anteil zu nehmen und die Erinnerung lebendig zu halten. Gefühlt war es ein wenig voller als sonst, vielleicht veranlasste die aktuelle Situation mehr Menschen dazu, ein Zeichen zu setzen. Das taten auch die Vertreter der Kirchengemeinden und der Stadt in ihren Reden sehr deutlich.
Zum dreißigsten Mal kamen gestern die Menschen zur Gedenkfeier in den Stadtpark – das Mahnmal von Künstler Alfred Grimm wurde 1993 eingeweiht – einer Gedenkfeier, die in diesem Jahr ein „besonderes Gewicht“ habe, so David Bongartz, Superintendent des Kirchenkreises, bei seiner Begrüßung. Mit Schrecken habe man vor fünf Wochen den Angriff der Hamas auf jüdische Menschen erleben müssen und wie sich auch in Deutschland Menschen mit der Hamas solidarisierten. Erschreckend sei aber auch, dass viele Menschen teilnahmslos zugesehen hätten. „Wir sind gefragt“, stellte David Bongartz klar, „jeder Form des antisemitischen Extremismus entgegenzutreten. Wir halten daran fest, dass Frieden werden kann.“
Auch Bürgermeisterin Michaela Eislöffel mahnte: „Wir dürfen niemals vergessen.“ Am 9. November 1938 brannten die Synagogen in Deutschland, wurden jüdische Geschäfte geplündert und in Dinslaken wurden am 10. November die Kinder des jüdischen Waisenhauses durch die Straßen getrieben. Daran erinnert das Mahnmal von Alfred Grimm. Er habe damit auch einen Ort des Gedenkens geschaffen, so die Bürgermeisterin, Orte des Gedenkens seien auch für die Zukunft wichtig. Gestern waren die Gedanken der Anwesenden bei den Opfern des Nationalsozialismus und bei der Partnerstadt Arad in Israel. Man dürfe nicht vergessen, was auch in Dinslaken möglich war.
Auch interessant
Der Leiterwagen sei einerseits ein Symbol für die Schrecken des Nationalsozialismus, andererseits ein Mahnmal der Erinnerung. „Es ist unsere Pflicht, die Erinnerung aufrecht zu erhalten und nicht zu vergessen, wohin Vorurteile und Antisemitismus führen können“, appellierte Michaela Eislöffel. Die Reichspogromnacht sei nicht nur ein Angriff auf jüdisches Leben gewesen, sondern auch ein Angriff auf Menschlichkeit und Gleichberechtigung. „Wir dürfen niemals zulassen, dass sich solche Gräueltaten wiederholen. Wir müssen gegen jede Form von Diskriminierung aufstehen.“
Das Schicksal von Leopold Strauß
Auf diese eindringlichen Worte folgte ein nicht weniger eindringliches Gebet, das David Geballe, Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim-Oberhausen, in Hebräisch und Deutsch sprach. Anschließend ließen die Schülerinnen und Schüler des Berufskollegs jüdisches Leben in Dinslaken lebendig werden. Sie berichteten vom Projekt „Steiniger Weg“, bei dem die IT-Klasse QR-Codes für die Stolpersteine entwickelt hat, deren Scannen Hintergrundinformationen bietet. Eine andere Gruppe stellt Menschen und Orte jüdischen Lebens in der Stadt vor, unter anderem das Waisenhaus und den Friedhof, der ursprünglich am Kreisverkehr in der Innenstadt war, bevor er zum Parkfriedhof verlegt wurde.
Und sie stellen Leopold Strauß vor. Der Lehrer war bis 1927 Leiter der Fortbildungsschule – einer Vorgängerschule des heutigen Berufskollegs – und wurde in der Reichspogromnacht von Schülern so schwer misshandelt, dass er ein halbes Jahr später an den Folgen der Verletzungen starb. Unter die Haut geht auch der Bericht über die jüdischen Waisenkinder, die beim Sturm auf ihr Zuhause bei der Polizei Schutz suchen und dieser ihnen mit den Worten „Juden steht kein Schutz zu“ verwehrt wird und die mit dem Leiterwagen durch die Stadt getrieben werden.
Hanna Maas: „Wir sind sprachlos in diesen Tagen“
Die Schüler zeigten aber auch, dass Antisemitismus nicht nur der Vergangenheit angehört, sondern in Deutschland auch allgegenwärtig ist – und das nicht erst seit Anfang Oktober. Kurze Schlaglichter zu Ereignissen aus verschiedenen Städten verdeutlichten das: Anfang Januar 2019 wird eine hebräische Frau in einem Bus von einem Mann angegriffen, im Mai desselben Jahres wird ein Brandanschlag auf das Haus einer jüdischen Familie verübt. Im August 2022 wird in Detmold ein Banner zu einer Ausstellung zu jüdischem Leben in der Stadt beschmiert.
„Wir sind sprachlos in diesen Tagen“, brachte es Hanna Maas, Pfarrerin in Hünxe, in ihrem Gebet auf den Punkt. Der November sei in diesem Jahr angesichts von Krieg und so viel Grausamkeit besonders dunkel, das sei schwer zu ertragen. Sie bat Gott um Frieden und Versöhnung – Worte, die auch Trost spendeten. Das tat auch der Segen, den Thomas Berger, Pfarrer der katholischen Kirchengemeinde Dinslaken, zum Schluss der Gedenkfeier sprach: Freund und Feind sollen gesegnet werden, damit aus ihnen Schwestern und Brüder werden. Es sind tröstende Worte, die die Hoffnung auf Frieden nicht aufgeben.