Dinslaken. In einem Vertrag sichern Stadt und evangelischer Kirchenkreis den Standort des „Judenkarrens“ und das Wachhalten der Erinnerung an die Verbrechen

Es ist wohl ein trauriges Zeichen der Zeit, dass gefühlte Selbstverständlichkeiten wie diese schriftlich und offiziell abgesichert werden müssen: Stadt und evangelischer Kirchenkreis haben am Mittwoch einen Ausstellungs- und Urheberrechtsvertrag mit dem Künstler Alfred Grimm unterzeichnet. Damit bekennen sie sich zum Standort seiner Skulptur „Judenkarren“ im Stadtpark – und dazu, „die Erinnerung an die Verbrechen, die in Dinslaken gegenüber jüdischen Menschen, insbesondere auch Kindern des jüdischen Waisenhauses, begangen wurden, wachzuhalten.“

Judenkarren: Skulptur wurde 1993 eingeweiht

Die Bronze-Skulptur wurde am 10. November 1993 im Stadtpark eingeweiht. 55 Jahre zuvor, am 10. November 1938, dem Tag nach der Reichspogromnacht, haben Bürger aus Dinslaken das Waisenhaus an der Neustraße verwüstet. Sie zerschlugen die Möbel, schlugen Scheiben ein, sie trieben die Kinder des Waisenhauses in einem „Judenzug“ durch die Stadt. Die älteren mussten die Kleinsten im Karren ziehen. „Die Bürger von Dinslaken standen am Straßenrand und beschimpften uns. Es war das schlimmste Erlebnis in meinem Leben.“ Das schrieb Joseph Seligmann später. Der Junge aus Goch lebte im jüdischen Waisenhaus. Er war damals 13 Jahre alt.

Die Synagoge brannte an diesem Tag, die Häuser jüdischer Mitbürger brannten, Leopold Strauss, Lehrer der damaligen Fortbildungsschule, wurde von Schülern misshandelt. „Viele Kinder weinten und zu diesem Zeitpunkt konnte keiner von uns verstehen, wieso diese Männer uns so hassten, nur weil wir Juden waren“, erinnerte sich Joseph Seligmann.

Sein Name ist auch auf dem Kunstwerk von Grimm verzeichnet – gemeinsam mit den Namen der anderen Kinder, deren Zuhause das Waisenhaus damals war. In dem Karren liegen geöffnete Koffer, darin Kinderschühchen, Schuhe, Taschen, Knochen, Gebisse. Hinterlassenschaften, die sich später auch in den Konzentrationslagern fanden – bergeweise. Auf der Rückseite des Karrens sind die Familiennamen der jüdischen Opfer aus Dinslaken festgehalten.

Kunstwerk ein Zeichen gegen Rechtsextremismus

„Uns war es als Verwaltung und auch als Politik wichtig, dass wir uns zu diesem wirklich beeindruckenden Kunstwerk bekennen, weil es nicht nur künstlerisch höchsten Ambitionen genügt, sondern weil es auch eine klare Aussage hat. Diese klare Aussage ist gerade in heutigen Zeiten wieder wichtig zu betonen“, sagte Bürgermeister Dr. Michael Heidinger anlässlich der Vertragsunterzeichnung.

Die Stadt wolle „ein klares Zeichen setzen gegen Dinge, die in Deutschland, die in Dinslaken passiert sind und von denen wir wollen, dass sie nie wieder passieren.“ Dinslaken setze sich „für eine tolerante Gesellschaft und den Kampf gegen Rechtsextremismus“ ein. Der Vertrag sichert den Standort des Kunstwerks – unbefristet. Er darf nicht verändert oder verbaut oder durch antisemitische Symbole gestört werden.

In den 26 Jahren seines Bestehens wurde der „Judenkarren“ noch nicht beschmiert oder verunstaltet. Das sei auch ein Verdienst der weiterführenden Schulen, die jährlich zur Pogromnacht in würdevollen und bewegenden Veranstaltungen an die damaligen Geschehnisse erinnern, so Superintendent Friedhelm Waldhausen.

Antiisraelische Graffiti an wände in Dinslaken geschmiert

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Die Erinnerungskultur in Dinslaken werde von der Mitte der Gesellschaft getragen, betonte Heidinger - von den Schülern ebenso wie von Künstlern wie Grimm, der die Erinnerung zu seinem Lebenswerk gemacht hat, oder Autoren wie Anne Prior vom Verein Stolpersteine, die die Geschichte der Dinslakener Juden in mehreren Büchern wissenschaftlich aufgearbeitet hat.

Dieser gesellschaftliche Konsens steht derzeit nicht in Frage. Dennoch wurde bei der Unterzeichnung die Möglichkeit angesprochen, dass rechte Parteien in Dinslaken die Mehrheit erreichen könnten. Antiisraelische Graffiti wurden schon an Wände in Dinslaken geschmiert. „Man weiß nie“, sagte Stadtsprecher Thomas Pieperhoff. Dass der „Judenkarren“ aber die Verbrechen der Pogromnacht in der Mitte von Dinslaken anklagt – das ist nun langfristig gesichert.

>>Hintergrund

Das Schicksal der jüdischen Kinder des Waisenhauses Dinslaken hat Anne Prior in der Forschungsarbeit „Geben Sie diese Kinder nicht auf“ aufgearbeitet. Gemeinsam mit dem Kölner Gedenkort Jawne hat sie zudem in einer Ausstellung die Flucht der Kinder nach Belgien thematisiert. Von 42 geflüchteten Kindern überlebten 26. Die Ausstellung soll 2021 auch in Dinslaken zu sehen sein.

Die Gesamtschule Mittelkreis aus Goch erinnert auf einer eigenen Homepage an die jüdischen Kinder aus Goch und Uedem und hat auch den Lebensweg von Joseph Seligmann aus dem Dinslakener Waisenhaus sowie das Schicksal seiner Familie nachgezeichnet: wp.ge-mittelkreis.de/jukinder/.

Das Berufskolleg Dinslaken, die Nachfolgeschule der Fortbildungsschule, hat im vergangenen Jahr eine Skulptur in Erinnerung an Leopold Strauss geschaffen. Sie ist im Foyer an der Wiesenstraße zu sehen.