Hünxe/Voerde/Dinslaken. In Hünxe können sich nicht alle Eltern das Mittagessen für ihre Kinder leisten. Die Kleinen essen, was übrig bleibt. Was Hünxe dagegen tun will.

„Es erstaunt mich schon sehr, dass in einem so reichen Land wie Deutschland nicht alle Kinder ein kostenfreies Mittagessen bekommen.“ Das sagte der Kartik Raj, Wissenschaftler von Human Rights Watch, jüngst bei einem Besuch der Grundschule Bruckhausen, wo er sich über das Mittagessen-Projekt der Diakonie Dinslaken informiert hat. Für dreieinhalb Monate hat die Diakonie allen Kindern im Offenen Ganztag der Grundschule im Rahmen des Pilotprojekts die Mittagsmahlzeit finanziert - damit ist nun Schluss. Aber das Projekt hat ein Umdenken bei der Politik in Hünxe angestoßen. Danach könnte das Mittagessen für Ganztagskinder bald verpflichtend sein. „Keine Snack-Kinder mehr“ – diese Bitte der Diakonie fand im Hünxer Gemeinderat, wo die Geschäftsführerinnen Nicole Elsen-Mehring und Alexandra Schwedtmann die ersten Projektergebnisse vorstellten, Gehör.

Snack-Kinder. So werden die Kinder genannt, die zwar den Offenen Ganztag besuchen, aber nicht fürs warme Mittagessen angemeldet sind. Denn bei der Anmeldung zum Ganztag dürfen die Eltern wählen, ob ihre Kinder ein Essen bekommen, oder ob sie ihnen einen Snack – also eine Zwischenmahlzeit als Ersatz für das Mittagessen – mitgeben.

Die Kinder bekommen als Snack einen halben Muffin mit oder die Pommes vom Vortag

Wie das dann mitunter in der Realität aussieht, beschreibt Nicole Elsen-Mehring so: „Manche haben als Snack einen halben Muffin mit, manche die alten Pommes vom Vortag.“ Und oft werde der Snack schon in der ersten großen Pause gegessen. „Die Kinder müssen von 8 bis 16.30 Uhr aushalten und um 10 Uhr ist der Snack weg“, berichtete Alexandra Schwedtmann: „Wir haben Kinder, die kein Essen bekommen und die dann da sitzen und warten, dass sie die Reste bekommen.“ Dabei handele es sich nicht etwa um Einzelfälle, sondern „das ist an jeder OGS, die wir betreuen“ und auch an anderen Schulen der Fall. Die Diakonie betreut den Offenen Ganztag in den Grundschulen in Hünxe, an der Regenbogenschule Möllen und am Theodor-Heuss-Gymnasium Dinslaken.

„Wir reden davon, das Bildung der Grundstein für ein Leben ist. Wir müssen die Kinder aber erstmal bildungsfähig machen“, forderte Nicole Elsen-Mehring. Und dazu gehöre „ein warmes Mittagessen in der Schule von 8 bis 16.30 Uhr und nicht nur ein Snack, wo jedem überlassen bleibt, was es ist.“

Reiche Eltern wollen Essen lieber wegwerfen, als armen Kindern geben

Abgesehen davon, dass die Kinder an einem so langen Tag ohne ordentliche Mahlzeit unruhig würden: „Was ist das für eine Botschaft: Ich muss warten, bis die reichen Kinder satt sind?“, fragte Alexandra Schwedtmann, selbst Mutter eines Grundschulkindes. Auch für die Mitarbeiter sei die Situation schwierig. In einer Grundschule habe es Eltern gegeben, „die das Essen bezahlt haben und erwartet haben, dass wir es eher wegwerfen als es Kindern zu geben, die kein Essen bestellt haben.“

Auch der Solidaritätsgedanke, auf dem das Projekt gefußt hat, sei allerdings „komplett gescheitert“, so Alexandra Schwedtmann. Die Eltern, die sich das Essen leisten können, hätten weiterhin zahlen oder einen selbstgewählten Betrag spenden können. Dann hätten die anderen Familien länger profitieren können. Nur zwei Elternpaare hätten das Essen auf diese Weise gespendet.

Bitte der Diakonie: die Wahlmöglichkeit abschaffen

Statt 35 haben im Rahmen des Projekts 65 Kinder am Mittagessen teilgenommen, „knapp 100 Prozent mehr Kinder haben gegessen“, so Elsen-Mehring. Was im Umkehrschluss bedeute, dass den Familien der 30 Kinder das Essen bis dahin zu teuer war.

„Wir haben das alle nicht geglaubt“, so Nicole Elsen-Mehring - schon gar nicht in Hünxe. Aber es gebe „überall Armut, auch versteckte Armut. Es gebe viele Eltern, die beide arbeiten und trotzdem sagen müssen ich koche lieber abends selber, als dafür das Geld auszugeben.“ Die Diakonie-Geschäftsführerinnen verwiesen auf den Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz, der ab 2026 gilt. Bis dahin spätestens sollten alle Kinder ein kostenloses Mittagessen bekommen, so Nicole Elsen-Mehring. „Das ist natürlich nicht Ihr Auftrag“, wandte sie sich an die Hünxer Kommunalpolitiker, „das muss auf Landes- beziehungsweise auf Bundesebene geklärt werden.“ Aber sie bat die Hünxer Ratsleute: „Die Wahlmöglichkeit zwischen Snack und Mittagessen sollte abgeschafft werden.“ Es solle „keine Snack-Kinder mehr“ geben. In anderen Städten - wie etwa in Dinslaken – sei das bereits der Fall.

So geht es weiter

Die Diakonie werden das Projekt mitsamt Befragungen von Eltern und Kindern nun ausführlich auswerten und dann nochmals im Schulausschuss der Gemeinde präsentieren. Dort soll es dann um die Frage des obligatorischen Mittagessens für alle Ganztagskinder gehen. In Hünxe haben im vergangenen Schuljahr 289 Kinder am Offene Ganztag teilgenommen, im neuen Schuljahr werden es 304 sein. Wie viele davon fürs Mittagessen angemeldet sind, darüber hat die Gemeinde keine Unterlagen.

Die Kosten für das Mittagessen an Hünxer Grundschulen steigen laut Hauptamtsleiter Klaus Stratenwerth bald von 3,50 Euro auf 3,90 Euro am Tag. Von dem Vorschlag, das Mittagessen verpflichtend zu machen, „werden nicht alle Eltern begeistert sein, glaubt er. Gerade für die Randgruppe, die knapp über der Bedürftigkeitsgrenze liegt und das Essen somit nicht vom Jobcenter oder Sozialamt bezahlt bekommt, machen 78 Euro im Monat viel aus. „Diese Gruppe hat niemand so recht auf dem Schirm, aber die müssen echt knausern“, so Alexandra Schwedtmann

Gleichzeitig wolle die Gemeinde aber auch die Beiträge für den Offenen Ganztag neu strukturieren, so Stratenwerth. Diese sind aktuell bis zu einer Einkommensgrenze von 73.000 Euro gestaffelt. Bis zu einem Jahreseinkommen von 15.000 Euro zahlen Eltern keinen Beitrag, bis 25.000 Euro werden 25 Euro im Monat fällig, bis 37.000 Euro 40 Euro, wer bis zu 49.000 Euro im Jahr verdient, zahlt 60 Euro monatlichen Beitrag für den Ganztag, bei Einkommen bis 61.000 Euro sind es 80 Euro, bei bis zu 73.000 Euro Jahreseinkommen sind es 100 Euro und wer mehr als 73.000 Euro verdient, zahlt 120 Euro für den Offenen Ganztag - jeweils plus Mittagessen, wenn es gebucht ist. Die Gemeindeprüfungsanstalt hat der Gemeinde Hünxe laut Klaus Stratenwerth aber empfohlen, auch darüber noch Staffelungen einzuziehen - also die besonders Gutverdienenden stärker zu belasten.

So läuft es in Dinslaken

In Dinslaken ist das Mittagessen für Kinder, die den Offenen Ganztag von Grundschulen besuchen, verpflichtend. Die entsprechende Satzung der Stadt Dinslaken zur Erhebung von Elternbeiträgen in der Offenen Ganztagsschule (OGS) wurde vom Stadtrat 2015 beschlossen. Die Regelung „schließt aber nicht aus, dass in Einzelfällen auch eine Eigenverpflegung möglich ist, wenn dies über die Erziehungsberechtigten regelmäßig sicher gestellt ist“, so Stadtsprecher Marcel Sturm. „Entscheidend ist, dass die Kinder eine Mahlzeit einnehmen können und dies im Rahmen der gemeinschaftlichen Mittagspause geschieht.“

Nach einer Erhebung Anfang diesen Jahres nehmen laut Sturm etwa 1250 Kinder in der Offenen Ganztagsschule am Mittagessen, das über den jeweiligen Träger bereitgestellt wird, teil. Unterstützungsleistungen gebe es im Bedarfsfall über das Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) des Jobcenters. Hier werden für BuT-Berechtigte die Kosten des Mittagessens in voller Höhe übernommen. Darüber hinaus bestehe eine Unterstützung im Rahmen des NRW-Härtefallfonds „Alle Kinder essen mit“.

Dass nicht alle Eltern in der Lage (oder willens) sind, das Mittagessen zu bezahlen, zeigte sich vor vier Jahren: Die Ganztagsträger schlugen damals Alarm: An den Grundschulen in Dinslaken hatten sich in den Jahren 2016 bis 2018 Zahlungsrückstände in Höhe von 23.000 Euro angesammelt. Die Stadt hat schließlich die Hälfte der Schulden übernommen. Aktuell gibt es bei der Verwaltung aber „keine Anfragen der OGS-Träger über ausstehende Kostenbeiträge“, so Sturm.

Die Elternbeiträge zum Offenen Ganztag in Dinslaken sind in acht Jahres-Einkommensgruppen gestaffelt - bis 24.000 Euro (kein Beitrag), 36.000 (55 Euro monatlich), 48.000 Euro (82,50 Euro), 60.000 Euro (104,50 Euro), 72.000 Euro (132 Euro), 84.000 Euro (140 Euro), über 84.000 Euro (150 Euro).

So läuft es in Voerde

In Voerde sind die Kinder – wie in Hünxe – nicht verpflichtet am Mittagessen teilzunehmen, so Miriam Gruschka, Sprecherin der Stadt Voerde. „’Snack-Kinder’ haben wir in Voerde auch, diese können ihr mitgebrachtes Essen von zuhause dann auch in der Mensa verzehren“, so die Sprecherin. „Leistungsberechtigte Personen im Rahmen von Bildung und Teilhabe (Bürgergeld, Wohngeld, etc.) können hierüber einen Anspruch auf Mittagsverpflegung geltend machen“, so Miriam Gruschka. Wie viele Kinder am Mittagessen teilnehmen, könne die Stadt nicht beziffern, weil die Mittagsverpflegung über die Kooperationspartner im Offenen Ganztag abgewickelt wird (Caritas, Deutscher Kinderschutzbund, Diakonie).

In Voerde sind die Ganztagsbeiträge in acht Einkommensgruppen gestaffelt: bis zu 15.000 Euro (0), bis 24.000 Euro (28 Euro), bis 36.000 Euro (45 Euro), bis zu 48.000 Euro (70 Euro), bis 60.000 Euro (90 Euro), bis zu 72.000 Euro (115 Euro), bis 84.000 Euro (135 Euro) und über 84.000 Euro (150 Euro).