Gelsenkirchen. Der FC Schalke 04 konnte im 4-4-2 unter Karel Geraerts bisher nicht überzeugen. Woran liegt das? Ein Taktik-Blogger geht in die Analyse.
Der FC Schalke 04 taumelt aktuell mit großen Schritten in Richtung worst-case Szenario. Dabei steht Trainer Karel Geraerts im Fokus, der dem Team auf dem Platz bis dato keine Konstanz in taktischen Abläufen geben konnte. Der 42-jährige Belgier versuchte es in den vergangenen zehn Ligaspielen mit verschiedenen Formationen. Seit dem 4:0-Sieg gegen Osnabrück Anfang Dezember setzt er auf ein 4-4-2 mit Raute. Doch mit Blick auf seine Zeit bei Union Saint-Gilloise fällt auf, dass das 4-4-2 mit Raute nicht seine Lieblingsformation ist – in keiner der Spielphasen.
+++ Schalke: Vier knifflige Entscheidungen für Karel Geraerts +++
Was sich Schalkes Chefcoach dennoch von dem 4-4-2 mit Raute erhofft hat und weshalb es sinnvoll wäre, die Grundformation zu wechseln, analysiert Taktik-Blogger und Profi-Analyst Benny Grund für die WAZ.
KAPITEL 1: Schalke: Warum das 4-4-2 mit Raute schwierig umzusetzen ist
4-4-2 mit Mittelfeldraute – was wie eine simple Grundformation aussieht, ist für die Profis auf dem Rasen relativ schwer umzusetzen. Gerade gegen den Ball ist das 4-4-2 mit Raute eine der komplexesten Formationen überhaupt, sofern aus der Position heraus verteidigt wird. Idee dieser Grundordnung ist es, in allen vier Spielphasen – also eigener Ballbesitz, gegnerischer Ballbesitz, Umschalten auf gegnerischer Ballbesitz und Umschalten auf eigenen Ballbesitz – eine Überzahl im Zentrum herzustellen. Essenziell dabei ist allerdings, dass die Abstände auf dem Platz stimmen. Genau da beginnen die Probleme im Spiel der Schalker.
Geraerts hatte sich vom neuen System vor allem Überladungen der äußeren Zonen gewünscht. Wenn die Gegner nicht richtig in ihre Pressingabläufe hineinkommen, konnten die Schalker bei gutem Durchschieben häufig numerische Überzahlen auf dem Flügel erzeugen. Schlüsselrollen haben dabei vor allem der ballnahe Achter und der Zehner. Sie bewegen sich, sobald der Ball beim Außenverteidiger ist, aus dem Zentrum heraus in die Breite. Inklusive des Sechsers und des Stürmers soll so eine Fünf-gegen-vier-Überzahl erzeugt werden (siehe Abbildung 1).
Schalke: Matchplan in Kaiserslautern ging nicht auf
Dass dieser Plan aufgehen kann, bewiesen die Schalker im Testspiel gegen KAS Eupen (3:1). Mit exakt diesem Muster konnte sich die Geraerts-Elf ein Tor herausspielen und sich sogar noch weitere gute Gelegenheiten erarbeiten. Aber: In der 2. Bundesliga sind die Schalker damit zum Start der Rückrunde gleich zweimal auf Granit gestoßen. Sowohl der Hamburger SV als auch der 1. FC Kaiserslautern haben es mit simplen Mitteln geschafft, dass die Königsblauen gar nicht erst in ihre geplanten Abläufe kommen.
Bei der 1:4-Niederlage auf dem Betzenberg hatte der FCK den Matchplan, das Schalker Mittelfeld permanent in Manndeckung zu verteidigen. Auffällig war vor allem, dass Marlon Ritter den S04-Sechser Paul Seguin über das komplette Spielfeld verfolgte. Die Folge: Abstände zwischen den Schalker Spielern wurden so groß, dass ein Kurzpassspiel auf engem Raum nicht mehr möglich war und viele Bälle lang in die letzte Linie auf Simon Terodde und Keke Topp geschlagen wurden, die sich in einer Drei-gegen-zwei-Unterzahlsituation wiedergefunden hatten (siehe Abbildung 2).
Schalke fehlen in Ballbesitz die Ideen
Selbst wenn die Schalker versuchten, das Spiel von hinten flach aufzubauen, konnten die Lauterer simpel am Mann direkt nach vorne verteidigen und umschalten. Sobald die Abstände zwischen den einzelnen Positionen zu groß werden, müssen Spieler in der Lage sein, ihre Eins-gegen-eins-Duelle mit dem Rücken zum gegnerischen Tor aufzulösen – das ist undankbar und schwierig. In der Mittelfeldraute, der Geraerts zuletzt vertraute, ist dazu nur Kenan Karaman in der Lage. Blendi Idrizi hat weiterhin Probleme damit, zu seinem Spiel zu finden, wenn der Gegner ihn permanent unter Druck setzt und körperbetont spielt. Tobias Mohr hat ebenfalls große Probleme damit, solche Situationen als Achter mit dem Rücken zum gegnerischen Tor aufzulösen.
In Kaiserslautern fanden die Schalker deshalb keine Lösungen in Ballbesitz. Weil die Ideen fehlten, wie sie progressiv in die gegnerische Hälfte kommen können, ließen die Verteidiger den Ball mehrfach so lange durch die eigene Abwehr laufen, bis die FCK-Angreifer zum Pressing ansetzten – es folgte oft ein langer Ball, der nicht verarbeitet werden konnte.
Das Schalker 4-4-2 hat Schwächen in der Defensivarbeit
Noch eklatanter als die Probleme im eigenen Ballbesitz waren bei den Schalkern zuletzt allerdings die Schwächen des Systems in der Defensivarbeit. Beim 0:2 gegen den HSV zum Rückrundenauftakt hatten die Schalker zwar mehr Ballbesitz und mehr Torchancen als der Gegner, doch schlechte Struktur und Abstände im Ballbesitz sorgten für eine ungünstige Positionierung in der Restverteidigung. Negativbeispiel ist hier das 1:0 für den HSV durch Immanuel Pherai.
Schalke versuchte hier Mann gegen Mann zu verteidigen, doch Abwehrchef Marcin Kaminski ließ sich herauslocken, anstatt zusammen mit der Mittelfeldraute zu verschieben und doppelt abzusichern. Weil beide Achter vom Hamburger SV (Pherai und Lazlo Benes) in den Schalker Strafraum stießen, verteidigte Idrizi hinter Seguin, der im luftleeren Raum stand. Der HSV nutzte das aus: Bakery Jatta sprintete in die Tiefe und brachte die S04-Abwehr so komplett aus dem Konzept. Weil die Hamburger den rechten Flügel mit Außenverteidiger Ignace van der Brempt und Jatta doppelt besetzt hatten, konnte Mohr nur noch auf van der Brempts Dynamik reagieren und lief hinterher (siehe Abbildung 3).
Die Folge war eine Drei-gegen-zwei-Unterzahl im eigenen Strafraum – ein Bild, das sich in der Rückrunde sogar häufiger zeigte. Gruppentaktisch scheint die Idee von Trainer Karel Geraerts für das vorhandene Schalker Spielermaterial zu komplex zu sein. Durch mindestens zwei positionsfremde Spieler (zum Beispiel Mohr und Idrizi) in der Mittelfeldraute werden die Schalker gegen den Ball zu häufig ins Chaos gestürzt und limitieren sich im eigenen Ballbesitz, wenn die Abstände größer werden und der Gegner einen klugen Matchplan hat.
Um die Schalker Mannschaft zu stabilisieren, braucht es dahingehend eine Veränderung.
KAPITEL 2: Was Schalke-Trainer Karel Geraerts verändern könnte
Ansetzen muss Karel Geraerts vor allem auf der Sechserposition: Der Trainer muss davon wegkommen, dass sein Team nur mit einem Sechser aufbaut und absichert. Ron Schallenberg zählte in der zurückliegenden Zweitligasaison beim SC Paderborn zu den defensiven Mittelfeldspielern in der 2. Bundesliga – er hatte aber stets einen zweiten Sechser an seiner Seite, der ihn in allen Phasen des Spiels unterstützt und vor allem das progressive Passspiel erleichtert hat.
Neben einer Umstellung auf eine Doppelsechs, sollte Geraerts auch zu einer Dreierkette zurückkehren, die zumindest in der Defensive für mehr Sicherheit sorgen sollte. Aus dem aktuellen Kader hat zuletzt kein Innenverteidiger bewiesen, dass er das individuelle Profil mitbringt, um in einer Viererkette zu funktionieren. Timo Baumgartl wäre diese Rolle zwar zuzutrauen, doch der 27-Jährige ist seit seinem Sommer-Transfer noch nicht wirklich auf Schalke angekommen. Marcin Kaminski neigt zu oft dazu, ohne Absicherung der Tiefe nach vorne zu verteidigen. Tomas Kalas fehlen die Qualitäten im Spiel mit dem Ball, und allein kann er die Räume, die Kaminski in der Tiefe öffnet, nicht mehr auffüllen.
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Schalke-Neuzugang Soppy könnte direkt wichtig werden
Geraerts muss es deshalb schaffen, dass sein Team mehr qualitativ guten Ballbesitz hat und durch Rotationen in den Positionen, und damit verbundenen Überzahlen, ein effektiveres Gegenpressing vorbereitet. Für die kommenden Monate könnte Last-Minute-Neuzugang Neuzugang Brandon Soppy (ausgeliehen von Atalanta Bergamo) sofort wichtig werden, denn er ist ein klarer Flügelverteidiger und könnte auf rechts für Impulse sorgen. Cedric Brunner wäre so eine zusätzliche Alternative für die Position des rechten Innenverteidigers in der Dreierkette in einer 3-4-2-1-Grundformation (Abbildung 4).
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KAPITEL 3: Schalke muss die Überzahlen nutzen
Wie das Motto für die kommenden S04-Spiele lauten sollte? Weniger in Formationen, sondern mehr in Überzahlen denken. Ein Schlüssel muss sein, dass die Mannschaft nach eigenem Ballverlust sofort in ein effektives Gegenpressing gehen kann. Dafür müssten die Schalker vor allem im Spielaufbau deutlich mehr Personal in der eigenen Hälfte binden und den Torhüter situativ in den Aufbau einbeziehen.
Den Gegner ins Pressing zu locken, könnte so ein effektives Stilmittel sein, um im Mittelfeld eine Überzahl zu bekommen und in der dritten Linie eine Drei-gegen-drei-Situation zu kreieren (siehe Abbildung 5). Im eigenen Ballbesitz könnte das Spiel durch Karaman und Soppy in der letzten Linie breit geöffnet werden. Schallenberg könnte im Zentrum durch Seguin und Lino Tempelmann unterstützt werden, damit der Spielaufbau nicht nur auf seinen Schultern lastet.
Mut bei Schalkes Verteidigern gefragt
Klar ist aber: Überzahlen werden so ausgelegt, wie sie der Gegner zulässt. Verteidigt der Gegner beispielsweise in einem 4-4-2 etwas tiefer, hätte Schalke die Möglichkeit, die gegnerischen Verteidiger über die eigenen Flügelverteidiger hoch zu binden und die zentralen Sechser des Gegners permanent vor die Entscheidung zu stellen, ob sie herausrücken oder ihren Innenverteidiger absichern.
Das erfordert allerdings Mut. So müssten die äußeren Innenverteidiger immer wieder mit dem Ball andribbeln und die erste Verteidigungslinie des Gegners durchbrechen – in der Spielfeldmitte könnte so eine Vier-gegen-drei-Überzahl erzeugt werden (siehe Abbildung 6). Bei Ballverlust wären so genug Spieler in der Nähe des Balls, um dort sofort wieder zuzupacken. Selbst wenn die Schalker dort überspielt werden sollten, könnte das Zentrum aus einer Drei-gegen-drei-Restverteidigung geschlossen und die Grundformation schnell wieder eingenommen werden.
Zum Ballbesitzspiel gehören dazu immer Spielprinzipien, die den Spielern zur Orientierung während der 90 Minuten dienen. Ein simples Beispiel: Bei Überzahlen immer durchs Zentrum eröffnen. So nimmt der Trainer Einfluss auf den Spielrhythmus und macht es den Spielern leichter, danach zu handeln.
Zum Autor: Analyst und Blogger
Benny Grund ist Fußballanalyst und Taktik-Blogger. Er berät diverse Vereine, Trainer und Analysten im Profibereich. Der 25-Jährige hat sich vorgenommen, „den Fußball verständlicher und greifbarer zu machen“ und teilt seit Jahren seine Fußballanalysen in den Sozialen Medien.
Bei X (vormals Twitter) folgen Grund mehr als 20.000 Menschen, seine Analysen zu Schalke 04 und anderen internationalen Klubs erreichen dort regelmäßig mehr als 100.000 Leute. Auch bei Twitch und YouTube ist er aktiv – etwa als Interview-Host und Analyst der Talkshow „at Broski“.