Paris. Die deutsche Fahnenträgerin ist eine Sekunde zu langsam und verliert. Bei Olympia in Paris hat sie trotzdem gewonnen. Eine Würdigung.

Anna-Maria Wagner ist eine Strahlefrau. Wenn die gebürtige Ravensburgerin lächelt, wird die Welt um sie herum ein wenig schöner. Am Donnerstagabend lächelt die deutsche Fahnenträgerin nicht. Sie liegt, sie trottet davon und sie weint. Und eine Sekunde stand sie zuvor. Das war die Sekunde zu viel.

„Das war mein großer Fehler, dass ich mich zu lang an einem Ort aufgehalten habe. Dann ist Judo knallhart“, sagt die 28-Jährige, nachdem sie im Bronzekampf (Gewichtsklasse bis 78 Kilogramm) der Olympischen Spiele in Paris der Chinesin Ma Zhenzhao (26) im Golden Score durch Ippon unterlegen war. „Es ist total bitter. Sie lässt sich nicht einfach werfen, also wollte ich über die Strafen kommen und hatte ein gutes Gefühl“, sagt Wagner noch und schluchzt dann hemmungslos.

Olympia: Deutsche Fahnenträgerin Anna-Maria Wagner verpasst Medaille im Judo

Die amtierende Weltmeisterin war mit hohen Erwartungen nach Paris gekommen. „Sehr, sehr stark“ habe sie sich im Achtel- und Viertelfinale am Vormittag noch gefühlt, beide Duelle souverän gewonnen. Die Niederlage gegen Inbar Lanir (24/Israel) in der Vorschlussrunde war unglücklich. Taktisch hatte sie das Gefecht angehen wollen, „sie machen lassen“, was jedoch nicht ganz glückte. „Aber ich war danach sehr selbstbewusst, weil es mir gut gelungen ist, den Schalter im Kopf umzulegen“, sagt Wagner.

Sie ist auch eine Kopffrau. Ein kluger Kopf. Der nach Olympia in Tokio 2021 nicht mehr so geradlinig funktionieren wollte wie davor. Post-olympische Depression nannte sie die Phase ohne großen Antrieb nach dem Gewinn zweier Bronzemedaillen.

Wagner ging offen mit ihren mentalen Problemen um

Die in Köln lebende Wagner ging sehr offen und mutig damit um. Ob freiwillig oder nicht, sie diente damit vielen Menschen als Inspiration. Seit Jahresbeginn ist das Thema endgültig ad acta gelegt. „Ich habe einen Cut im Kopf gemacht“, das sagt Wagner gern und oft. Es trifft auf ihre Erkrankung zu.

Es besaß Gültigkeit in der gut einstündigen Phase zwischen dem verlorenen Halbfinale und dem Bronzeduell zu. Es war aber auch der Fall, nachdem die pompöse Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele am vergangenen Freitag absolviert war.

Der Trubel um Wagner bei der Eröffnungszeremonie sei kein Problem gewesen

Als „ganz, ganz tolle Ehre“ hat Wagner es wahrgenommen, die Fahne gemeinsam mit Basketball-Weltmeister Dennis Schröder (30) tragen zu dürfen. „Ich habe es sehr genossen und das gern mitgenommen.“ Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass der extreme Trubel für die zweifache Weltmeisterin völlig ungewohnt war.

Bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele trug die herzliche Judoka die deutsche Fahne.
Bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele trug die herzliche Judoka die deutsche Fahne. © DPA Images | Annegret Hilse

Als sie mit zersausten Haaren im blauen Judoanzug ihre Niederlage zu begründen versucht, versichert Wagner: „Das hatte keinen Einfluss auf meine Leistung. Ich habe es bis Freitagabend genossen, das alles dann aber hinter mir gelassen, auch keine Interviews mehr gegeben, sondern war im Tunnel.“ Ein Cut im Kopf eben. Auf die Matte in der Arena Champ de Mars, dem Marsfeld, sei sie nicht als Fahnenträgerin gegangen, sondern als Anna-Maria Wagner.

Knieverletzung beeinträchtigt Wagner, aber gilt nicht als Ausrede

Für die gelten keine Ausreden. Von außen habe sie keinen Druck verspürt. Auch ihre leichten Knieprobleme wollte die Sportsoldatin nicht anführen. „Ich hatte ein bisschen was am Knie, aber ich kann sowas sehr gut ausblenden und habe keine Schmerzen im Kampf gespürt“, sagt Wagner.

Der Bronzekampf von Anna-Maria Wagner (r.) gegen die Chinesin Ma Zhenzhao (26) war lange Zeit ausgeglichen.
Der Bronzekampf von Anna-Maria Wagner (r.) gegen die Chinesin Ma Zhenzhao (26) war lange Zeit ausgeglichen. © Witters | Leonie Horky

Nach dem Kampf sind ihre Leiden dafür umso größer. Wagner, diese imposante 1,82-Meter-Frau wirkt etwas eingefallen vor Enttäuschung, strahlt aber immer noch berechtigten Stolz aus. „Diese Kämpfe werden mich noch sehr lange beschäftigen. In diesem Jahr werde ich keinen Judoanzug mehr anziehen.“

Im Mannschaftswettbewerb kämpft sie noch mal für Deutschland

Das dürfte nicht ganz korrekt sein, war aber vermutlich dem Moment geschuldet. Am Sonnabend kämpft Deutschland im Mixed-Mannschaftswettbewerb – mit Wagner. „Wir haben so ein starkes Team, für das will ich auf jeden Fall zum Kampftag wieder den Schalter umlegen und bin auch guter Dinge, dass das klappt. Vielleicht gelingt uns ein versöhnlicher Abschluss mit einer Medaille“, sagt Wagner, die ihre Trauer über das verpasste Edelmetall im Einzel bis dahin bei Familie und Freunden, die zahlreich in Paris sind, verarbeiten möchte.

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Dann ist wirklich Pause, und dann wird Wagner erneut angreifen. Sie mag in Paris ihr sportliches Ziel nicht erreicht haben. Als Fahnenträgerin, offenherzige und zutiefst herzliche Galionsfigur des Teams Deutschland hat sie dennoch gewonnen. Für sich, für das Judo, aber auch für die sonst zumeist unsichtbaren und kaum gewürdigten Sportarten, denen sie in der vergangenen Woche ein Gesicht gegeben hat. Wagner überstrahlte mit ihrer Persönlichkeit alles. Sie ist eine Überstrahlefrau.