Berlin. Wohl nie gab es einen verdienteren Europameister als Spanien. Die Elf hat junge Wilde, eine Art Vaterfigur. Wer soll sie schlagen?

Ganz unten in den Tiefen des Berliner Olympiastadions tänzelte eine kleine Palme, nach links, nach rechts; und man musste sich schon durch den Pulk der Fragesteller und Medienvertreterinnen kämpfen, um zu erkennen, dass es sich natürlich nicht um ein Gewächs aus der Familie der Monokotyledonen handelte, sondern um die zu einem wilden Dutt zusammengebunden Haare von Nico Williams. Immer noch trug der 22-Jährige sein rotes Trikot, wippte nach vorne, nach hinten, lächelte verschmitzt und wirkte eher wie einer, der mit seinen Kumpels quatscht. Dabei erklärte er gerade, der Montag war bereits angebrochen, der Weltöffentlichkeit, wie Spanien diesen großen Triumph errungen hatte – und fand dabei auch Worte, die nur jemand finden kann, dessen Biographie so viele Probleme beinhaltet.

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Spanien ist Europameister - verdienter geht es nicht

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„Meine Eltern haben sehr viel gelitten, um hierherzukommen. Sie haben mir Respekt und Loyalität beigebracht“, sagte Williams. Sein Vater und seine mit Bruder Inaki schwangere Mutter Maria waren einst aus Ghana geflüchtet, lange mussten sie sich in ärmlichen Verhältnissen durchschlagen. Jetzt hat es ihr Sohn Nico nach ganz oben geschafft.

EM 2024: Spanien ist Europameister - News und Hintergründe

Der rasante Offensivdribbler ist ein Gesicht des neuen Europameisters 2024. Spanien hat durch den 2:1-Sieg im Finale über England die Großveranstaltung in Deutschland gewonnen. Aber nicht irgendwie, das Land aus dem Süden Europas, fast 50 Millionen Einwohner leben hier, hat das Turnier dominiert, hat die Schönheit des Spiels betont, hatte zugleich eine wilde Seite, hat vier Weltmeister geschlagen, alle sieben Begegnungen für sich entschieden. Vermutlich gab es nie einen verdienteren EM-Sieger.

Europameister Spanien: Ein funktionierendes Gebilde mit einer wilden Seite

Trainer Luis de la Fuente hat seine Mannschaft zu einem funktionierenden Gebilde geformt, das sich gemeinsam nach vorne bewegt, gemeinsam nach hinten rückt, in dem jeder seine Aufgabe kennt. Aber trotzdem, und hier kommt die spezielle Würze, hat Spanien etwas Unberechenbares, wenn Williams vorne den Ball erhält, wenn Lamine Yamal dribbelt, wenn Dani Olmo in den gegnerischen Sechzehnmeterraum stürzt.

Die spanischen Auftritte waren ein Genuss, gewonnen hat der Fußball. Während England, Frankreich, Belgien, in Teilen die Niederlande vor allem auf Sicherheit setzten, traute sich der neue Europameister, eine Begegnung an sich zu reißen, seine Spielkultur ließ defensiven Zement zerbröseln. Sollte dies nun das Vorbild sein, an dem sich die anderen orientieren, wäre das für die kommenden Turniere eine gute Nachricht.

Ganz, ganz oben: Spaniens Trainer Luis de la Fuente fliegt in die Luft.
Ganz, ganz oben: Spaniens Trainer Luis de la Fuente fliegt in die Luft. © dpa | Tom Weller

Es bleibt die Frage, ob am Sonntagabend auch eine neue Ära begonnen hat. Von 2008 bis 2012 dominierte Spanien bereits den Weltfußball, jetzt ist eine neue Generation nach oben gekraxelt und möchte sich dort festbeißen. „Diese Spieler bilden eine tolle Gruppe, und sie werden sich weiter verbessern“, meinte Trainer de la Fuente. Das konnte man als Drohung verstehen. Der 63-Jährige hat lange erfolglos in der Dritten Liga gearbeitet, noch im März prasselte die Kritik auf ihn ein, nachdem seine Elf in der EM-Qualifikation 0:2 gegen Schottland verloren hatte. Alles vergessen.

Spaniens Trainer Luis de la Fuente fliegt in die Luft: Einmal, zweimal, dreimal

Das Spiel war schon lange abgepfiffen, Lametta glänzte auf dem Rasen, da sah man im Olympiastadion, wie jener de la Fuente in die Luft flog, einmal, zweimal, dreimal. Seine Spieler warfen ihn nach oben, mit vielen hat er bereits in den spanischen Juniorenauswahlen zusammengearbeitet. Erst in der U19, dann in der U21, in zwei Jahren wird der Mann mit der funkelnden Glatze versuchen, nach dem WM-Pokal zu greifen.

Im Zentrum wird dabei weiterhin Rodri stehen. Die Europäische Fußball-Union hat den 28-Jährigen, beschäftigt in England bei Manchester City, zum Akteur des Turniers gekürt. Rodri fungierte als Taktgeber, als Sicherheitsanker im Mittelfeld, immer anspielbar, immer zeigte sein Kopf nach oben. Eine Art Vaterfigur für die jungen Wilden vor ihm, die in der Offensive durch ihren Zug zum Tor verzückten. Nico Williams hat sich in das Rampenlicht des europäischen Spitzenfußballs gespielt. Genauso Lamine Yamal, gerade 17 Jahre alt, beide malten gemeinsam den ersten Treffer auf den Rasen. Yamal wetzte nach innen, Williams vollstreckte.

Europameister Dani Olmo könnte RB Leipzig verlassen

Ergänzt wurden die beiden Draufgänger von Dani Olmo, bekannt aus der Bundesliga von RB Leipzig. 26 Jahre alt ist dieser Zehner, während des Turniers rückte er nur in die Startelf, weil sich Pedri (den haben sie auch noch) nach einem Tritt von Toni Kroos verletzte. Olmo kann dribbeln, kann überlegt passen, kann gezielt schießen, schwer vorstellbar, dass er noch lange in Leipzig bleibt.

So viele Gesichter, so viele Geschichten: Abwehrspieler Aymeric Laporte, 30, geboren in Frankreich, hatte sich aus Wut, weil ihn Frankreichs Nationaltrainer Didier Deschamps nicht berücksichtigte, im Jahr 2021 für die spanische Auswahl entschieden, nachdem er eingebürgert wurde. Marc Cucurella, die „Hand Zottels“, wie die Bild gelungen titelte, wurde wegen seines nicht geahndeten Handspiels gegen Deutschland erneut beschämenderweise ausgepfiffen. Wie aus Trotz bereite er den Siegtreffer vor. Diesen erzielte nach dem zwischenzeitlichen Ausgleich von Cole Palmer (73.) der eingewechselte Mikel Oyarzabal kurz vor dem Abpfiff. Ein EM-Siegtorschütze, der überstrahlt wurde von den anderen prägenden Figuren, aber dieses Tor nimmt dem 27-Jährigen keiner mehr.

Über allem steht das spanische Kollektiv. „Das sind absolut die Besten. Wir möchten immer besser werden und weitere Titel holen“, sagte Luis de la Fuente. Die Gegner sollten sich schon mal anschnallen.