Leipzig. Geheimfavorit Österreich scheitert im Achtelfinale der EM 2024 an der Türkei. Die hat danach gleich zwei Helden zu feiern.

Vielleicht muss die Fußballgeschichte neu geschrieben werden nach der EM-Achtelfinal-Partie zwischen Österreich und der Türkei vergangenen Mittwochabend. In der Nachspielzeit schickte Österreichs Christoph Baumgartner einen Kopfballaufsetzer in Richtung türkisches Toreck. Aus zwei Metern, unbedrängt, eigentlich nicht zu halten.

Eigentlich. Mert Günok flog, streckte die Hand weit aus und lenkte den Ball zum Entsetzen des ÖFB-Teams um den Pfosten. Nur noch Sekunden zu spielen, es blieb beim 2:1 für die Türken. Ein Sensationssieg, der sie am Samstag ins Viertelfinale gegen die Niederlande nach Berlin führt (21 Uhr). Geheimfavorit Österreich hingegen muss nach Hause.

Nach dem Spiel wurden Erinnerungen an Englands Keeper Gordon Banks wach, der am 7. Juni 1970 im WM-Vorrundenspiel gegen Brasilien einen ähnlichen Kopfballaufsetzer von Pelé von der Linie gekratzt hatte. Die Parade gilt als die spektakulärste Fußballgeschichte. Bis dato.

Türkeis Abwehrchef Merih Demiral traf zweimal per Kopf

Ralf Rangnick, Teamchef der Österreicher, wurde mit ihr konfrontiert. „Stimmt“, murmelte der 66-Jährige, beide seien vergleichbar. „Mit Gordon Banks im Tor ist dann auch unsere letzte Chance des Spiels nicht reingegangen“, fügte er hinzu. „Wir hatten 21 zu 6 Torchancen, haben aber nur ein Tor gemacht. Das müssen wir uns ankreiden.“

Konsterniert: Österreichs Trainer Ralf Rangnick muss das EM-Aus gegen die Türkei verkraften.
Konsterniert: Österreichs Trainer Ralf Rangnick muss das EM-Aus gegen die Türkei verkraften. © dpa | Sebastian Christoph Gollnow

Was war das für ein Duell gewesen! Das Stadion glühte, das Spielfeld glühte. Trotz Nieselregen, und das von der ersten bis zur 95. Minute. Schon nach 60 Sekunden nickte der türkische Abwehrchef Merih Demiral den ersten Eckstoß ins ÖFB-Tor (1.), in der 59. Minute köpfte er eine weitere Ecke zum 2:0 ein. Freiburgs Michael Gregoritsch verkürzte sieben Minuten später auf 1:2. Danach belagerten die Österreicher das Türken-Tor, waren immer wieder nah dran am Ausgleich. So wie Baumgartner - der in Günok seinen Meister fand.

RB-Leipzig-Profi Christoph Baumgartner weinte bittere Tränen

Baumgartner, der RB-Leipzig-Profi, weinte nach dem Abpfiff bitterliche Tränen in die Schulter eines Betreuers. Das Alpen-Team war nah dran gewesen, die beiden verpatzten Türken-Standards und eine verkorkste erste Hälfte wettzumachen. „Wenn wir den Ausgleich machen“, sagte später Baumgartners Klub-Kollege Nicolas Seiwald, „gewinnen wir die Partie.“

Doch so funktioniert der Fußball nun mal nicht. Konjunktive sind was für die Verarbeitung von Schock und Entsetzen. Beides war jedem Mitglied der österreichischen Reisegruppe nach der Niederlage anzumerken. Spätestens nach dem 3:2 gegen die Niederlande im letzten Gruppenspiel schien das Viertelfinale bei dieser EM eine ausgemachte Sache.

Für Österreich war es „die schlimmste Art, so auszuscheiden“

„Wir waren überzeugt, dass wir den Weg weitergehen können“, sagte ÖFB-Präsident Klaus Mitterdorfer nach dem Spiel mit leiser Stimme. Weil das sein Job ist, versuchte er die noch verbleibende lichte Facette der schmerzhaften Niederlage in den Fokus zu rücken. „Wir haben in Österreich viele Menschen stolz gemacht. Das können wir aus dem Turnier mitnehmen.“

So einfach wollte den Spielern der Trost allerdings nicht gelingen. „Extrem traurig“, „extrem bitter“, so schilderten Seiwald, Gregoritsch und Hoffenheims Florian Grillitsch ihre Gemütsverfassung und die des Teams in der Kabine. Gregoritsch umriss zusätzlich die Dimension des unerwarteten Turnier-Knockouts. „Aufgrund unserer Spiele davor und der vergangenen zwei Jahre unter Ralf Rangnick ist das heute die schlimmste Art, so auszuscheiden. Von der Fußballtragik ist das nicht zu überbieten. Fürchterlich!“

Österreich-Trainer Ralf Rangnick wirkte konsterniert

Auch Rangnick wirkte einigermaßen konsterniert. Er zollte den Türken Respekt für deren „aufopferungsvolles Verteidigen“, er zählte die zwei eigenen großen Fehler auf – „die beiden Gegentreffer nach Standards und die fehlende Effizienz“ – und dennoch: „Ich kann mir im Moment gar nicht vorstellen, dass wir jetzt zurückreisen. Für mich war klar, dass wir noch in unserem Quartier in Berlin bleiben, und für die Spieler auch.“

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Doch es geht ja weiter, nichts steht jemals still, schon gar nicht im Fußball. Jetzt „wollen wir uns für die WM qualifizieren“, sagte Rangnick, der wie Gregoritsch ein klein wenig Trost darin fand, dass Günoks Gordon-Banks-Parade die Partie mit Österreichs tragischer Beteiligung in die Geschichtsbücher hieven wird. „So etwas habe ich in einem Fußballspiel noch nie live erlebt“, sagte der Freiburg-Profi. „Den Ball kann man eigentlich nicht halten.“