Essen. Peter Knäbel, Ex-Vorstand beim HSV und Schalke, lebt in der Schweiz. Im Interview spricht er über das EM-Viertelfinale gegen England.

Für einen Verein oder Verband arbeitet Peter Knäbel, 57, nicht mehr - am 30. Juni endete sein Mandat als Berater des FC Schalke 04, nachdem er bis Anfang Januar 2024 als Sportvorstand für die Königsblauen gearbeitet hatte. Eine Pause vom Fußball gibt es für Knäbel aber nicht. Für den SRF im Schweizer Fernsehen verfolgt er die Europameisterschaft als TV-Experte, die Schweiz ist seit vielen Jahren seine Wahlheimat - er lebt in Solothurn, 70 Kilometer von Basel entfernt. Spricht Knäbel über die Schweiz, sagt er oft „wir“. Ein Gespräch über den Schweizer Fußball und das anstehende Viertelfinale gegen England (Samstag, 18 Uhr, in Düsseldorf).

Die Schweiz steht im Viertelfinale. Seit 2006 hat sie an jeder WM teilgenommen, seit 1996 an sechs von acht EM-Turnieren. Ist die Teilnahme an einem großen Turnier zur Selbstverständlichkeit geworden?

Das darf es nicht werden. Du musst es immer noch zu schätzen wissen. Aber allein mit der Qualifikation zufrieden zu sein, ist nicht im Sinne der Entwicklung. Mit den durchgehenden Qualifikationen steigen die Ansprüche, dadurch kannst du dir höhere Ziele setzen. Das hilft, mehr zu erreichen, zum Beispiel den ersten Sieg gegen Italien seit 31 Jahren.

Über das Viertelfinale ist die Schweiz bisher nicht hinausgekommen. Gibt es schon eine Euphorie im Land oder ticken die Schweizer Fans so nicht?

Sie sind nicht so emotional, sondern eher rational einordnend. Es ist am Ende für die Schweizer dann doch überraschend, wenn sie in einem K.o.-Spiel eine große Fußball-Nation wie Italien besiegen. Die Stimmung ist deshalb natürlich sehr, sehr positiv. So wie bei der Eishockey-WM, als wir mit einem Sieg gegen Kanada und dem Finaleinzug schon einmal die Emotionalität und Euphorie der Sport-Schweiz erlebt haben.

Wenn ich die These aufstelle, dass der Erfolg auch auf Ihre Arbeit zurückgeht – wie antworten Sie dann?

Solche Erfolge haben viele Väter und Großväter. Er hängt vor allem mit der Stabilität und dem Entwicklungswillen im Land und im Sportsystem der Schweiz zusammen. Bin ich einer der Väter oder Großväter? Das würde ich mit Ja beantworten.

Sie haben in Ihrer Zeit in Basel viele Nationalspieler kennengelernt und eingebaut: Yann Sommer, Xherdan Shaqiri und vor allem Granit Xhaka, den Kapitän. Mit der ganzen Familie Xhaka würde Sie viel verbinden, haben Sie einmal gesagt. Inwiefern?

Das Umfeld eines Spielers zu verstehen, ist sehr wichtig, vor allem, wenn sie Talent haben. Als ich ihn besser und näher kennengelernt habe, waren wir mit der U12 des FC Basel in Pristina zu Gast, das ist ja die Heimat der Familie Xhaka.

Ihn kennt Peter Knäbel schon seit Jahrzehnten: Schweiz-Kapitän Granit Xhaka.
Ihn kennt Peter Knäbel schon seit Jahrzehnten: Schweiz-Kapitän Granit Xhaka. © Matthias Koch | Sebastian Räppold/Matthias Koch

Er war schon in der U16 des FC Basel Führungsspieler. Stimmt das?

Grund-Charakterzüge erkennt man relativ früh. Zum Beispiel an einfachen Dingen wie der Rolle als Kassenwart. Dann musst du von Gleichaltrigen Geld eintreiben. Das geht nur mit Durchsetzungskraft und Glaubwürdigkeit. Er war sich nie zu schade, den Leuten seine Meinung zu sagen. Besonders wichtig war der Titel bei der U17-WM 2009 – Granit und Ricardo Rodriguez sind heute noch bei der EM dabei. Granit war damals nicht der beste Spieler des Turniers, aber einer der wichtigsten Führungsspieler. Man hat früh gesehen, dass er Ecken und Kanten hat. Aber nicht nur das ist wichtig.

Was meinen Sie damit?

Es ist auch wichtig, zum richtigen Zeitpunkt die passenden Mitspieler zu haben. Auf und neben dem Platz. Du musst Leute und Menschen treffen, die dich weiterbringen, die Sprossen auf deiner Karriereleiter sind. Als er jung war, kamen Alex Frei, Marco Streller und Benjamin Huggel aus der Bundesliga zurück zu ihrem Heimatklub FC Basel. Granit ist schon immer als Lernender unterwegs gewesen, auch jetzt in Leverkusen unter Xabi Alonso, der ihm zu etwas verholfen hat, was im Fußball selten ist: Charisma und Ausstrahlung. Das braucht Zeit. Im Italien-Spiel gab es eine Szene, die das verdeutlicht hat.

Welche?

Die Schweiz geht 1:0 in Führung, die Spieler orientieren sich nach hinten, jetzt bloß kein Gegentor bekommen. Und was macht Granit? Läuft aus der eigenen Hälfte heraus den Gegner an bis zum Torhüter und symbolisiert: Weiter nach vorne, Männer, wir ziehen unseren Plan durch. Er weiß inzwischen sehr genau, welche Zeichen er wann setzen muss. Das zeichnet einen absoluten Führungsspieler aus.

Haben Sie Kontakt zu ihm gehalten, vor allem in der Leverkusener Meistersaison?

Es ist ein Geschenk, mit den Spielern heute noch in Kontakt zu stehen. Aber nicht nur mit jenen, die gerade bei der EM aktiv sind. Für meine Arbeit sind diejenigen, die so erfolgreich werden wie er, genauso wichtig wie diejenigen, die einen ordentlichen Beruf erlernt haben und dort ihren Mann stehen. Am Flughafen habe ich einen ehemaligen Jugendspieler getroffen, der in den Junioren der Konkurrent von Ivan Rakitic war. Er arbeitet inzwischen bei der Kantonspolizei. Da habe ich mir gedacht: Der hat es eben auch geschafft.

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Sie haben auch Nationaltrainer Murat Yakin in Basel kennengelernt – Sie waren Funktionär, er Spieler. Haben Sie damals schon vorhergesehen, dass er mal Trainer wird?

Der Weg zum Trainer ist im Schweizer Ausbildungssystem lang und hart. Ich finde das richtig. An Murat schätze ich vor allem, dass er sich alles selbst erarbeitet hat, als er sich für diesen Weg entschied. Früh angekündigt hat sich das für mich persönlich nicht. Bei Granit bin ich mir übrigens zu 100 Prozent sicher, dass er es als Trainer schafft, er verfolgt dieses Ziel jetzt schon mit Akribie und Professionalität.

Welchen Anteil hat Yakin am Erfolg?

Er ist der Anführer dieser Expedition. Beim ihm laufen alle Fäden zusammen. Murat hat einen zu ihm passenden Beraterstab gefunden – von der Spielanalyse bis zur Athletikabteilung. Er verkörpert die Entscheidung, zum Beispiel gegen das große Italien den offensiven Ndoye zu bringen. Das strahlt aus: Wir glauben an die eigenen Stärken, wir nehmen und haben unser Schicksal in den eigenen Händen.

Arbeitete von 2001 bis 2006 mit Peter Knäbel zusammen: Schweiz-Trainer Murat Yakin.
Arbeitete von 2001 bis 2006 mit Peter Knäbel zusammen: Schweiz-Trainer Murat Yakin. © Michael Taeger/Jan Huebner | Michael Taeger

Die Schweiz steht nur drei Plätze hinter Deutschland in der Fifa-Weltrangliste auf Rang 19. Macht Sie das stolz oder traurig?

(überlegt) Ich nehme den Stolz. Es sind schließlich 18 Jahre Arbeit in und für die Schweiz gewesen, keine kurze Zeit. Es steckt Kontinuität und Stabilität dahinter. Der DFB ist, was diese Fragen betrifft, meiner Meinung nach auf dem richtigen Weg. Wenn der DFB lange genug in eine Richtung arbeitet, wird er wieder unter die Top 3 kommen. Es braucht einfach Zeit. Als ich 2014 beim WM-Finale war, habe ich auf den Platz geschaut und mich gefragt: Wie lange haben die schon miteinander gearbeitet und empfindliche Niederlagen erlitten? So ist es aktuell bei der Schweizer Mannschaft auch. Du brauchst Zeit, um dorthin zu kommen, wo du dich siehst. Um auf die Frage zurückzukommen: Ich hoffe, dass beide gemeinsam auf alte Höchststände klettern.

Aber ist die Schweiz dazu in der Lage? Nur sechs aus dem 26-Mann-Kader sind im Jahr 2000 geboren oder jünger. Macht Ihnen das Sorgen?

Sie weisen exakt auf das Richtige hin. Ich darf hier den Mahner geben. Wir dürfen uns in der Schweiz nicht zurücklehnen und die Zukunft rosarot sehen. Die Toptalent-Breite ist bedeutend schmaler geworden. Das verfolge ich mit Sorge, genau wie die Einsatzminuten der jungen Spieler in der Schweizer Super League. Breite ist wichtig, um besondere Spieler hervorzubringen. Die Österreicher, die ein ein sehr gutes Turnier gespielt haben, haben die Schweiz mit der Anzahl der Spieler in der Bundesliga überholt. Sie bringen in der Breite Topspieler hervor, auch die Norweger bauen auf. Die EM hilft der Schweiz aber sehr, ein paar Spieler auf die große Plattform zu hieven, um in relevanten Ligen Spielzeit zu bekommen und dort in Führungsrollen reinzuwachsen. Das zeichnet diesen Schweizer Kader aus..

Am Samstag wartet England im Viertelfinale, die nächste große Fußball-Nation. Wie sehen Sie die Chancen?

Erst einmal: Die Schweiz spielt gegen England, nicht gegen die Premier League. Die besten englischen Spieler haben natürlich einen riesigen Marktwert, aber ob sie als Gruppe gleichgut funktionieren wie ein Kader, der deutlich mehr Länderspielerfahrung hat wie zum Beispiel die Schweiz? Du musst dich nicht kleinreden, es ist eindeutig eine Chance für die Schweiz da, wenn sie ihr Mindset behält. Die Schweizer haben keine Nebenkriegsschauplätze, sie sind sich ihres Stils sicher, haben ihre Identität bei dem Turnier. Diese Mannschaften setzen sich in der Regel gegen Teams durch, die das – wie die Engländer – nicht haben. Die wichtigsten Einzelspieler der Schweiz kommen alle aus relevanten Ligen: Torwart Yann Sommer ist italienischer Meister, Abwehrspieler Manuel Akanji englischer Meister und Granit Xhaka deutscher Meister.

Sie sind als TV-Experte für das Schweizer Fernsehen bei der EM dabei. Wie viele Spiele haben Sie verfolgt - und gefällt Ihnen, was Sie sehen?

Ich habe sechs Spiele live im Stadion gesehen, darunter die vier in Gelsenkirchen, und werde vier Spiele - inklusive Finale - als Experte im Studio begleiten. Fußballerisch sehe ich nicht, dass Mega-Trends gesetzt werden und bisher sieht vieles eher mühsam als erfrischend und begeisternd aus. Man kann sich zurecht fragen, ob das der hohen Belastung und der hohen Anzahl Spiele geschuldet ist. Ich gehe aber davon aus, dass die Qualität bis zum Finale steigen wird. 

Sie haben aktuell keinen Job – außer als TV-Experte. Zieht es Sie zurück zu einem Verein oder Verband?

Mein Mandat ist gerade Ende Juni ausgelaufen. Ich bin dankbar, dass ich in dieser Zeit für Schalke 04 mit dem FC Aarau einen sehr interessanten Kooperationsverein in der Schweiz finden konnte. Am Montag habe ich mich mit einem Brunch von den Mitarbeitern verabschiedet. Und die Vorbereitung und Analyse eines Turniers wie der EM kostet Zeit und Energie, weil ich den Zuschauern einen echten Mehrwert bieten möchte. Zurück zu ihrer Frage: Finale Pläne habe ich aktuell noch nicht. Ich genieße erst einmal, bei der Euro Fernsehen machen zu können und der Familie ihren Raum zu geben.