Herzogenaurach. Das EM-Viertelfinale gegen Spanien ist das größte Spiel seit acht Jahren. Weltmeister Benedikt Höwedes traut dem DFB-Team viel zu.

Sucht man nach Szenen, die beweisen, dass man niemals aufgeben sollte, wird man im Halbfinale der Europameisterschaft 2016 fündig. Jerome Boateng verschätzte sich, Olivier Giroud klaute den Ball und machte sich auf in Richtung Manuel Neuers Tor. Der Franzose kam bis in den Strafraum, setzte gerade zum Schuss mit links an. Doch er hatte seine Rechnung ohne Benedikt Höwedes gemacht, der heroisch angerutscht kam und den Ball blockte.

„Die Grätsche war ein besonderer Moment für mich, weil die Situation so aussichtslos schien. Giroud hatte ja schon 20 Meter Vorsprung“, sagt Höwedes im Gespräch mit dieser Redaktion. „Und sie war wichtig, weil es zu diesem Zeitpunkt noch 0:0 stand.“ Nicht mehr lange allerdings. Bastian Schweinsteiger beging in der Nachspielzeit der ersten Hälfte ein Handspiel. Antoine Griezmann verwandelte und legte Mitte des zweiten Durchgangs das 2:0 nach. Frankreich zog ins Finale ein, Deutschlands Traum vom nächsten Pokal platzte zwei Jahre nach dem Triumph von Rio de Janeiro.

DFB-Elf erlebte nach der EM 2016 bittere Jahre

Acht Jahre lang blieb der bittere Abend von Marseille das bislang letzte große Spiel der deutschen Mannschaft bei einem Turnier. Die Weltmeister-Mannschaft von 2014 zerbröselte langsam, in Russland erlebten die Verbliebenen erst die Mesut-Özil-Affäre und schieden in der Vorrunde aus. 2021 war im EM-Achtelfinale gegen England Schluss. 2022 scheiterte das DFB-Team in Katar an Japan, Spanien, Costa Rica und Themen abseits des grünen Rasens.

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Nun aber blicken die Deutschen wieder hoffnungsvoll auf ein K.o.-Duell in der Spätphase eines Turniers. Am Freitag (18 Uhr/ARD und Magenta) stehen sie im EM-Viertelfinale Spanien gegenüber. Aus dem Traum vom Titel wacht die DFB-Elf in Stuttgart entweder auf – oder die Geschichte wird realer denn je. „Ich glaube, dass wir enorm viel Potenzial haben, um dieses Jahr tatsächlich Europameister zu werden, obwohl wir nun natürlich einen ganz schweren Weg vor uns liegen haben“, sagt der langjährige Schalker Höwedes, der 2017 sein letztes Länderspiel bestritt. „Spanien und dann eventuell Frankreich – das sind Brocken. Wenn du aber den Titel holen willst, musst du jeden schlagen.“

Die spanische Flügelzange Lamine Yamal und Nico Williams.
Die spanische Flügelzange Lamine Yamal und Nico Williams. © Getty Images | Alex Grimm

Dass der Glaube an Berlin nicht nur bei Höwedes lebt, ist erstaunlich. Der Aufschwung unter Julian Nagelsmann schien im November gegen die Türkei und Österreich abrupt zu enden. Seitdem allerdings ist viel passiert. Der Bundestrainer hat die Abwehr stabilisiert, er hat als sein Meisterstück Toni Kroos reaktiviert und nun dafür gesorgt, dass die DFB-Elf die EM-Vorrunde sowie das Achtelfinale gegen Dänemark überstand und phasenweise begeisterte. „Hätte ich nicht daran geglaubt, wäre ich auch nicht zurückgekehrt“, sagte Kroos am Mittwoch über den möglichen Titel zum Abschied. „Das wäre ein sensationelles Ende.“

Deutschland gegen Spanien ist das verfrühte EM-Endspiel

Mittlerweile sind solche Ankündigungen glaubwürdig. „Ich glaube, dass wir dazu in der Lage sind, Europameister zu werden“, sagt auch Höwedes, der Parallelen zur Weltmeister-Auswahl 2014 sieht. „Man bekommt mit, dass da eine Mannschaft zusammensteht, die wirklich Bock aufeinander hat, die füreinander durchs Feuer geht, dass da ein Trainer ist, der Feuer und Flamme ist. Von daher glaube ich, dass diese Mannschaft zu vielem in der Lage ist.“

Zum Beispiel dazu, den EM-Champion von 2008 und 2012 aus dem Wettbewerb zu werfen. Das Duell gilt ob der bisherigen Eindrücke als vorgezogenes Finale. „Bei mir herrscht pure Vorfreude auf das Spiel, weil es jede Menge zu bieten hat: taktischer Natur, Unterhaltungswert, individuelle Qualität, viele Abschlüsse“, meint Höwedes über die Partie zweier Nationen, „die über wahnsinnig viel Qualität verfügen, eine große Mentalität besitzen und ein Gewinner-Gen in sich tragen“. Bei der WM 2022 habe die DFB-Elf auch schon gegen die Iberer (1:1) ihre beste Turnier-Leistung gezeigt, weil Teams, die selbst den Ballbesitz lieben, ihrem eigenen Spiel entgegenkommen. Dann ergeben sich Freiräume für die deutschen Künstler um Jamal Musiala.

Eckpfeiler des Erfolgs: Bundestrainer Julian Nagelsmann, Toni Kroos und Jamal Musiala.
Eckpfeiler des Erfolgs: Bundestrainer Julian Nagelsmann, Toni Kroos und Jamal Musiala. © DPA Images | Bernd Thissen

Ein Sieg würde das Kribbeln im Land verstärken, aus Rückenwind für die Mannschaft sogar in einen kleinen Orkan wandeln. Wie es dann aber nach dem Turnier, ob mit oder ohne den Coupe Henri Delaunay weitergeht? Schwierig vorherzusagen. „Es geht jetzt erstmal darum, kurzfristig erfolgreich zu sein – und so sollten wir auch denken. Da ist eine Gruppe, die sehr gut funktioniert, das sollten wir genießen“, findet Höwedes, der davon ausgeht, dass neben Kroos noch weitere Spieler das Bedürfnis hätten, auf ihrem Höhepunkt aufzuhören. Als Kandidaten gelten Thomas Müller und Manuel Neuer. „Dennoch werden wir auch in der Zeit danach viele gute Spieler haben, die das deutsche Trikot tragen werden“, sagt Höwedes.

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Er denkt in erster Linie an Musiala und Florian Wirtz, aber auch an Nico Schlotterbeck. „Er hat es bisher gut gemacht und das Potenzial, in der Startelf zu stehen. Wir haben also einige Leute, die 2026 in einem super Fußball-Alter sein werden. Natürlich gibt es ein, zwei Positionen wie die von Toni Kroos, auf der viel Qualität verloren gehen wird. Man hat jedoch genügend Zeit, andere Spieler aufzubauen“, meint Höwedes. „Wichtig ist, dass wir diesem Prozess Zeit geben und das nötige Vertrauen schenken.“

Nico Schlotterbeck und Antonio Rüdiger.
Nico Schlotterbeck und Antonio Rüdiger. © DPA Images | Bernd Thissen

Zeit hatte Bundestrainer Julian Nagelsmann seit seinem Job-Antritt im Herbst 2023 kaum. Das Vertrauen in seinen Kader und andersherum ist aber groß. Auch und vor allem bei Kroos, der seine Karriere nach der EM beschließen wird. „Ich gehe nicht davon aus, dass es mein letztes Spiel ist“, sagt Kroos über das Duell mit Spanien, seine langjährige Wahlheimat. Kaum jemand weiß besser, wie die großen Spiele funktionieren als der sechsmalige Champions-League-Sieger.

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