Münster. Dr. Rainer Hagencord ist Priester und Zoologe. Er versteht nicht, warum wir Haustiere lieben und gleichzeitig andere Tiere grausam schlachten.

Wenn ein geliebter Hund stirbt, trauern die Besitzer wie um einen verlorenen Angehörigen. Daneben werden in den Schlachthöfen Nutztiere im Akkord auf grausame Weise getötet. Mit solchen Widersprüchen im Verhältnis von Mensch und Tier beschäftigt sich der Priester Dr. Rainer Hagencord (62), der in Münster das Institut für Theologische Zoologie leitet.

Stellen wir uns an, wenn wir um ein geliebtes Haustier trauern?

Dr. Hagencord: Die Haltung zu Haustieren hat sich in unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert. Haustiere sind heute wie Familienmitglieder. Wenn sie krank werden oder sterben, durchlaufen wir ähnliche Trauerprozesse und auch ethische Konflikte wie bei einem Angehörigen. Wann ist es Zeit, ein Tier einzuschläfern? Wann ist es Zeit, bei der Großmutter die Maschinen abzustellen? Überhaupt: Was ist der Unterschied zwischen einer sterbenden Katze und einer sterbenden Großmutter?

Tiere, die leiden

Immer wieder sieht man im Alltag Beispiele extremer Tierliebe. Hunde, die sichtbar Schmerzen leiden und sich quälen, weil ihre Besitzer sie nicht gehen lassen wollen. Hunde, die zu Tode gefüttert werden.

Die Haustierfrage spiegelt wie im Brennglas das Verhältnis des Menschen zu den Tieren. Der britische Biologe Rupert Sheldrake hat gesagt: Wir haben in unserer Gesellschaft nur noch zwei Kategorien von Tieren. Die einen verwöhnen wir mit Haustierfutter, und die anderen werden dazu verarbeitet. Ich denke, in beiden Extremen ist in unserer Gesellschaft etwas in die Schieflage gekommen. Das zweite Problem ist allerdings das viel größere: Das Problem der industriellen Tierhaltung und die Vernichtung der Lebensräume der Tiere überall auf diesem Planeten. Und in beiden Fällen gilt als Überschrift eine große Entfremdung von der Natur.

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Wie konnte es soweit kommen?

Die Entfremdung zur Natur hat sich, wenn ich historisch argumentiere, in der Epoche der Aufklärung im 16. und 17. Jahrhundert etabliert. Den großen Denkern, Descartes, Kant, verdanken wir natürlich unendlich viel, die Freiheit des Subjektes, die Gedankenfreiheit und all das. Nur haben die Aufklärer letztlich ebenfalls für eine völlige Entwürdigung der Natur gesorgt. Nur wir Menschen haben nach dieser Auffassung das, was eine vernunftbegabte Seele ist. Tierschlachtung wird da so etwas wie ein maschinelles Ereignis, und der größte Tierschlachter in Europa nennt ja die Tiere auch Rohstoffe. Aber es gibt auch die andere Seite: Für manche Menschen sind die Tiere die besseren Menschen, und es wird möglicherweise alles in die Tiere hineinprojiziert, was den Tieren ebenfalls nicht gerecht wird.

Lebensräume verschwinden

Warum ist Biodiversität so wichtig?

Wir müssen bis spätestens 2030 insgesamt 30 Prozent der Lebensräume auf der Erde unter Schutz stellen, sonst sind im Jahr 2100 unsere Lebensgrundlagen vernichtet. Das sagt die wissenschaftliche Gemeinschaft. Das ist die Situation, in der wir sind. Wir sind im sechsten Artensterben.

Sie sagen das mit sehr skeptischem Unterton.

Wenn ich die aktuellen Debatten verfolge, dann sehe ich ja, dass das Naturschutzgesetz wieder einmal aufgeweicht werden soll, zum Beispiel mit Blick auf den Wohnungsbau. Das heißt, es wird noch mehr versiegelt. Ich glaube mit Verlaub nicht, dass wir noch eine Chance haben, unsere Erde und die Artenvielfalt zu retten.

Warum kann man das so schlecht kommunizieren, auch nicht bei Tierfreunden? Hat der Regenwurm keine Lobby?

Es ist für mich ein tatsächliches Rätsel. Wir sind Wesen der Natur und nicht vom Himmel gefallen, das erleben wir doch spätestens dann, wenn wir krank sind. Wir erleben auch, wie wohltuend es ist, etwa im Urlaub, in noch einigermaßen intakter Natur unterwegs zu sein. Das andere, wenn es um unseren Fortschritt und Erhalt und um unseren luxuriösen Lebensstil geht, dann sagen ja 90 Prozent der Leute, ja, wir sind schon dafür, dass etwas gegen den Klimawandel und das Artensterben getan wird, aber verändern wollen wir uns nicht.

Manchmal verzweifelt

Wie kommt man aus diesem Widerspruch raus?

Ich muss es nochmal sagen: Manchmal bin ich wirklich verzweifelt. Wenn ich nur das Wort Naturentfremdung sage, wissen 80 Prozent der Menschen gar nicht, was ich damit meine, weil es überhaupt kein Problembewusstsein dafür gibt. Da ist ja auch Wissen verloren gegangen. Die Leute wissen nicht mehr, dass es Zugvögel gibt. Wie will ich denn das schützen, was ich nicht kenne? Die einzige Spur, die ich sehe, ist eine andere Form von Bildung.

Mit den Kindergartenkindern auf den Kartoffelacker gehen?

Genau. Wir müssen Archen bauen. Das Bild der Arche Noah, diese biblische Erzählung, die bietet alles, um mit der Katastrophe, in der wir schon sind, in angemessener Weise umzugehen.

Schöpfung 2.0

Arche Noah? Was soll daran aktuell sein?

Theologisch ist es für mich sehr interessant, den Auftakt dieser Geschichte zu erinnern. Denn da ist ja von Gott die Rede, der sich ärgert, den es reut, dass er den Menschen überhaupt geschaffen hat. Das ist ganz interessant, denn die ersten beiden Schöpfungserzählungen, die vom Siebentagewerk und dem Garten Eden, die sprechen von einem Gott, der sagt: Es ist alles gut. Und hier kommt Schöpfung 2.0. Mit dieser Schöpfung ist es nicht gut. Weil dieser Mensch es überhaupt nicht schafft, in Frieden zu leben.

Noah und seine Tiere wurden gerettet.

Genau. Es gibt noch diesen einen, diesen Noah, diesen Archetypen. Der eben auf der Arche lebt mit seiner Familie. Und wie viele Tiere soll er retten? Von jeder Art ein Paar! Da steht nicht, er soll nur die niedlichen und die nützlichen retten. Es geht um eine Verabschiedung eines anthropozentrischen Prinzips, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Wir brauchen alle. Wir brauchen auch die, die wir eklig finden oder die uns stechen. Von jeder Art ein Paar brauchen wir. Und denen gilt es auf der Arche in Augenhöhe zu begegnen. Archisch zu leben, und nicht mehr hierarchisch. Und wir können Archen bauen, Lebensräume schaffen, in denen wir die noch retten, die zu retten sind, und wir wollen eine Bildung etablieren, in der jedes Geschöpf mit Respekt und auf Augenhöhe, betrachtet wird. Also in Frieden zu leben mit all den anderen. Und dazu gehört auch eine andere Ernährung. Also kein Fleisch mehr und wenn doch, dann bitte nur nach Biokriterien.

Freitags kein Fleisch

Die Rückkehr des Sonntagsbratens?

Wir haben gute Traditionen, den Sonntagsbraten, den Freitag als fleischlosen Tag, und wir haben ja auch die geprägten Zeiten wie Advent und Fastenzeit. Stellen Sie sich mal vor, in allen Kirchengemeinden würde wirklich im Advent eine Zeit der Umkehr und der einfachen Ernährung etabliert, es würde Ernst damit gemacht, dass wenn wir auf das Fest des Friedens zugehen, wir endlich aufhören mit dem Krieg, was sogar der Generalsekretär der Vereinten Nationen sagt: Wir müssen aufhören mit dem Krieg gegen die Erde und gegen die Tiere. Was wäre das für ein Zeichen!

Der Regenbogen als Zeichen

Weil Tiere auch Geschöpfe sind?

Ich möchte gerne den Gedanken von eben noch ergänzen, die Arche Noah vom Ende der Geschichte betrachten. Gott wird das Wort in den Mund gelegt: Immer, wenn ihr den Regenbogen im Himmel seht, denke ich an den Bund mit Euch und allem Fleisch, also mit all den anderen. Das haben wir in unserer Kultur vergessen, dass da ein Gott ist, der auch einen Bund mit den Tieren schließt. Papst Franziskus hat das in seiner Enzyklika „Laudato si“ auf den Punkt gebracht. Die Tiere sind nicht um unseretwillen da. Sie haben einen Selbstzweck. Und so endet die Arche-Noah-Erzählung. Dass die Tiere auch mit Gott im Bunde sind, dass, wer sich mit Tieren einlässt, den Segen der Natur erfährt, das erlebt man ja ganz dezidiert in den Bereichen von tiergestützter Therapie und Pädagogik. Viele können von ihrem Hund oder ihrer Katze zu Hause Lieder singen, wie wohltuend es ist, was die Tiere ermöglichen. Das ist der Mikrokosmos. Im universellen Kontext ist die Natur für uns insgesamt ein Segen. Ohne die Tiere, ohne die Bienen und Hummeln und all die Insekten, die um uns herumschwirren, haben wir keine Zukunft.

Gibt es keine Hoffnung?

Die Sintflut kommt. Wir können da keinen Optimismus mehr entwickeln. Das 1,5 Grad-Ziel wird nicht erreicht. Wir werden nicht 30 Prozent unter Schutz stellen. Aber wir können Archen bauen. Das ist dann eine Aktion der Hoffnung.

Info: Dr. Rainer Hagencord ist in Ahlen im Kreis Warendorf geboren und leitet in Münster das Institut für Theologische Zoologie, in dem es um eine angemessene Weise geht, mit den Tieren umzugehen und eine theologische Zoologie zu begründen, interdisziplinär und auch interreligiös. www.theologische-zoologie.de