Hagen. Das Festival Leselust läuft in Hagen und weiteren Städten. Es geht dahin, wo Kinder nie ein Buch gesehen haben. Warum das so wichtig ist.

Der Herbst ist die Zeit der Literaturfestivals. Doch während in wenigen Tagen die Vergabe des Literaturnobelpreises erwartet wird, sieht es am anderen Ende der Leiter düster aus. Ein Viertel der deutschen Viertklässler kann nicht richtig lesen. So lautet das Ergebnis der jüngsten Iglu-Studie vom Mai. Obwohl der Politik klar ist, dass hier erheblicher gesellschaftlicher Sprengstoff heranwächst, hat sich die Situation in den vergangenen Jahren nicht verbessert, sondern eher verschlechtert.

Jürgen Breuer weiß, was mit solchen Statistiken gemeint ist. Der Hagener organisiert gemeinsam mit Anna-Maria Stenz und Katharina Müller-Kinne das Leselust-Festival in acht Städten Südwestfalens. Leselust geht auch dahin, wo Bücher so fremd sind wie Wesen von anderen Planeten. „Lesen ist eine immens wichtige Kompetenz um am sozialen Leben und an der demokratischen und solidarischen Gestaltung einer Gesellschaft teilzuhaben. Angesichts einer Entwicklung, die zu einer Verrohung der Sprache und Gesellschaft führt, beispielsweise getriggert durch sogenannte soziale Medien, haben wir das Gefühl, wir müssten eigentlich 365 Tage im Jahr die Leselust fördern“, bilanziert Jürgen Breuer die Aufgabe des Festivals, das in diesem Jahr bereits seine 18. Auflage feiern kann.

Poetry Slam und Bilderbuchkino

Leselust versucht, auch solche Kinder und Jugendlichen für Geschichten zu begeistern, die in ihrem familiären Umfeld nie mit Büchern in Kontakt kommen. In Hagen, Halver, Iserlohn, Kierspe, Lüdenscheid, Meinerzhagen und Plettenberg lesen Autorinnen und Autoren aus ihren Werken, es gibt Bilderbuchkino, Theatervorstellungen, Poetry Slam, Zeichen-Workshops und viele Angebote mehr.

Zu den besorgniserregenden Erkenntnissen der Iglu-Studie, die am Institut für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund erstellt wurde, gehört die Erkenntnis, dass die Lesekompetenz in Deutschland im 20-Jahres-Vergleich sogar gesunken ist. 25 Prozent der Kinder erreichen nicht das Mindestniveau beim Verständnis von Texten, das notwendig ist, um die Schule weiter erfolgreich zu absolvieren. Ende 2017, bei der letzten Iglu-Erhebung, lag dieser Anteil noch bei 19 Prozent. Da die leseschwachen Kinder fast ausnahmslos aus armen Familien kommen, stellt sich die Frage, warum die bisherigen bildungspolitischen Mittel offensichtlich versagen. Leseschwache Kinder haben in ihrer weiteren Schullaufbahn erhebliche Rückstände in fast allen Fächern. „Das hat hohe Kosten für die betroffenen Individuen, für unsere Gesellschaft und unser Land und darf nicht weiter so bleiben“, so Prof. Dr. Nele McElvany, die wissenschaftliche Leiterin der Studie. Deutschland müsse mit seinem Bildungssystem zukünftig sicherstellen, dass alle Kinder über eine grundlegende Lesekompetenz am Ende der Grundschulzeit verfügen.

Lesemotivation

Interessanterweise ergibt die Untersuchung auch bei den leseschwachen Kindern eine hohe Lesemotivation. Das ist ein Instrument, das Festivals wie Leselust nutzen. „Über den bloßen Sprach- und Leseerwerb hinaus, der in der Schule vermittelt werden sollte, ist es ja das Ziel der Leselust, unter Beteiligung unterschiedlichster Autorinnen und Autoren spielerisch und fantasievoll mit Sprache umzugehen, sie weiter zu entwickeln und auch mal althergebrachte Regeln infrage zu stellen. Bei Kindern und Jugendlichen gilt ,früh übt sich‘“, so Jürgen Breuer. Das Leselust-Festival kooperiert mit Kulturzentren, Theatern und Büchereien in den teilnehmenden Städten. Das Angebot soll so niederschwellig wie möglich gestaltet sein. Schulen können die Veranstaltungen buchen, dann kommen die jeweiligen Autorinnen und Autoren in die Klasse. Der Preis beträgt in der Regel nur 1 Euro pro Person. Rüdiger Bertram liest beispielsweise aus seinem Roman „Der Pfad“, dessen Verfilmung 2022 als bester deutscher Kinderfilm ausgezeichnet wurde. Die Investigativ-Journalistin Isabelle Beer ist mit „Bis einer stirbt. Drogenszene Internet“ zu Gast und Chantal-Fleur Sandjon stellt ihren Versroman „Die Sonne, so strahlend und Schwarz“ vor, der für den deutschen Jugendbuchpreis 2023 nominiert ist.

Neue Räume

Lesen eröffnet gerade benachteiligten Kindern wichtige neue Räume. Die Erkenntnis, dass es neben dem physischen Alltag andere Welten gibt, die man in der Phantasie erreichen kann, mit Heldinnen und Helden, in deren Schicksal man sich selbst erkennt, dass es Geschichten zum Träumen und Lachen gibt, die Mut für die Gegenwart machen, ist ein wesentliches Ziel, wenn Literatur auf Kinder trifft. Jürgen Breuer: „Bei der Auswahl der Autorinnen und Autoren versuchen wir einen Mix aus Fantasie, Spaß und Freude, aber auch aktuell gesellschaftlichen Themen (Rassismus, Drogen, Toleranz und Diversität) zusammenzustellen. Leselust ist zwar ein kleiner Schritt, aber mit vielen anderen kleinen Schritten wichtig auf Pfad zu einer lebenswerten Welt.“

Das Festival läuft bis zum 20. Dezember. Alle Termine: www.leselustfestival.de

Die Mutter aller Literaturfestivals

Das Berleburger Literaturpflaster gilt als Mutter aller Literaturfestivals in Nordrhein-Westfalen. Mit seinem einzigartigen Konzept bringt die Veranstaltungsreihe jetzt seit nunmehr 30 Jahren die weite Literaturwelt in die Region Südwestfalen. Immer stehen die jeweiligen Gastländer der Frankfurter Buchmesse im Mittelpunkt. Bis zum November kann das Publikum die Literaturszene Sloweniens erkunden, dem diesjährigen Ehrengast der Buchmesse, die vom 18. bis 22. Oktober die weltgrößte Drehscheibe für Bücher und Autoren in Frankfurt ist. Slowenien ist als Buchland eine Entdeckung für die meisten Literaturfreunde, denn Stimmen wie GORAN VOJNOVIĆ, EINEM DER erfolgreichsten slowenischen Schriftsteller der Gegenwart, sind in Deutschland noch eher unbekannt. Er liest am 16. Oktober im Abenteuerdorf Wittgenstein aus seinem Roman „18 Kilometer bis Lubljana“, in dem es um Identitätssuche und kulturelle Offenheit geht. Begleitend zu den Lesungen können die Besucher beim Literaturpflaster Slowenien in Ausstellungen, Reiseberichten und Weinproben erkunden. Übrigens: Auf der Buchmesse will das kleine Land ein Manifest des Lesens vorstellen, in dem betont wird, dass das Lesen komplexer, linearer Texte weiterhin unser stärkstes Hilfsmittel für analytisches und kritisches Denken ist. Das Programm: www.literaturpflaster.com