Kreis Wesel. In jeder Klasse sitzen drei bis vier Kinder, von denen ein Elternteil psychisch krank ist. Welche Hilfsangebote es im Kreis Wesel gibt.
Für viele Betroffene ist es wie ein dunkles Geheimnis, das die ganze Familie betrifft und über das alle Beteiligten schweigen: Die Mama schafft es morgens nicht mehr aufzustehen, um das Pausenbrot zu schmieren. Oder der Papa liegt abends nur noch auf dem Sofa, neben sich die Bierflaschen. „Die Gesellschaft wird psychisch kranker“, sagt Ina Küpperbusch vom Kreisgesundheitsamt Wesel. Das belegen auch die Zahlen einer Studie: Im Jahr 2021 hatten 17,3 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die im Kreis Wesel bei der AOK versichert sind, mindestens ein Elternteil, das mit einer psychischen Krankheit diagnostiziert ist. „Das sind rund 20.000 Kinder und Jugendliche“, betont sie. „Und die Dunkelziffer“, fügt ihre Kollegin Agalja Uthayakumar hinzu, „ist wahrscheinlich noch höher.“
Das Kreisgesundheitsamt Wesel hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, Kinder aus suchtbelasteten Familien oder mit psychisch erkrankten Eltern besser darin zu unterstützen, die passende Hilfe zu erhalten. Zum einen durch eine neue Broschüre, die niederschwellige Angebote aufzeigt. Zum anderen durch zwei neue Fachkräfte, die ihre Arbeit am besten gleich mal selbst vorstellen können... Ina Küpperbusch nickt. „Ich setze mich als neue Netzwerkkoordinatorin für den besseren Austausch und die Zusammenarbeit von Fachkräften aus verschiedenen Bereichen ein“, erklärt sie. Denn, das ist ihr durchaus bewusst: „Selbst als Fachkraft blickt man im Hilfesystem nur schwer durch.“ Wie aber kann beispielsweise die Lehrerin überhaupt merken, dass in der Familie des Schülers etwas nicht stimmt?
Zwei Drittel der Kinder werden später selbst psychisch krank
„Es gibt nicht das eine Zeichen“, antwortet Ina Küpperbusch. „Kinder reagieren unterschiedlich auf Situationen.“ Ja, manche sind plötzlich im Unterricht unruhig, unaufmerksam, aggressiv. „Da kann man dann in einem Gespräch mit den Eltern fragen, wieso es sich so verhält“, sagt sie. Viel schwieriger aber ist es mit den „überangepassten Kindern“, wie sie es nennt, „die pünktlich sind, die ihre Hausaufgaben machen und die auch sonst nicht auffallen.“ Sie fallen häufig durchs Netz, „das geht nur durch Beziehungen“, ist sie überzeugt. Gerade bei der Klassenlehrerin oder dem Klassenlehrer besteht dann eine Chance, dass sich die betroffenen Kinder öffnen. Schließlich geht es ihnen genauso schlecht. Und das kann fatale Folgen haben. „Zwei Drittel der Kinder von psychisch erkrankten Elternteilen entwickeln im Laufe ihres Lebens selbst eine psychische Erkrankung“, erklärt sie.
Denn in ihrem „kindlichen Narzissmus“, wie Ina Küpperbusch es nennt, suchen sie häufig die Schuld bei sich selbst. „Ich bin Schuld, dass es der Mama nicht gut geht...“ Die Folge: „Ich schmiere mir selbst das Pausenbrot, mache selbst die Wäsche, und dann geht es meiner Mama auch wieder besser.“ Die Kinder übernehmen die Rolle des Elternteils, damit das Familiensystem weiter funktioniert. „Das kann Kinder krank machen“, betont sie. Damit das nicht passiert, damit die Kinder frühzeitig Hilfe erhalten, unterstützt sie die Fachkräfte manchmal auch mit ganz praktischen Tipps. „Die größte Herausforderung für Lehrer ist es, das Thema bei den Eltern anzusprechen“, sagt sie. Da ist es wieder, „das dunkle Familiengeheimnis“, über das alle schweigen. Weil psychische Erkrankungen und Suchterkrankungen noch immer ein Tabu in der Gesellschaft sind.
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Sorge der Jugendlichen: „Wer passt dann auf die Mama auf?“
Deshalb, das rät die Expertin, ein Gespräch besser nicht beginnen mit: „Sie haben ein Alkoholproblem!“ Stattdessen lieber mit: „Wie geht es aktuell Ihrem Kind?“ Es ist nicht leicht, die richtigen Worte für ein so schwieriges Gespräch zu finden, das ist auch ihr bewusst. „Aber psychische Erkrankung hin oder her, alle lieben ihre Kinder“, sagt sie. Deshalb lässt es sich am besten an die gemeinsame Sorge ums Kind knüpfen. Gemeinsam können Fachkräfte und Eltern dann nach Lösungen suchen, wie sich familiäre Strukturen und das alltägliche Leben für alle Beteiligten verbessern lassen. Ina Küpperbusch bezeichnet sich dabei selbst als „Lotsin im System“, denn auch hierbei versucht sie den Betroffenen aufzuzeigen, welche Hilfsangebote es überhaupt in der Region gibt: Von Familientherapie über Selbsthilfegruppen bis hin zu Sozialpsychiatrische Zentren.
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Dabei setzt sich Ina Küpperbusch auch dafür ein, den Übergang aus dem Kinder- und Jugendpsychiatrischen Bereich in die Erwachsenenpsychiatrie zu verbessern. Wie sehr selbst junge Erwachsene noch unter den familiären Strukturen leiden können, weiß Agalja Uthayakumar nur allzu gut. Sie berät Betroffene zwischen 15 und 25 Jahren sowie deren Angehörige, um ein geeignetes Angebot zu finden. „Für viele ist es schwierig, auf die eigenen Bedürfnisse zu schauen“, sagt sie. Zu präsent ist bei ihnen die Frage: „Wer passt dann auf die Mama auf? Oder auf den Papa?“ Andere fragen sich, wieso sie in der Schule, Ausbildung oder im Job immer wieder scheitern. In einem Gespräch versucht sie herauszufinden, wie die Lebensgeschichte aussieht, um daraus Rückschlüsse zu ziehen und dann die passenden Hilfsangebote vorzuschlagen.
Keine Frage der Schuld: Es geht um Hilfe für die betroffenen Kinder
Hilfsangebote im Kreis Wesel
Die Broschüre „KipsE – Hilfe für Familien mit psychisch-/suchterkrankten Eltern – Angebote und Ansprechpersonen“ ist auf der Homepage des Kreises Wesel unter dem Suchbegriff „KipsE“ abrufbar. Sowohl Familien als auch Fachkräfte in Jugend- und Gesundheitshilfe können sich einen Überblick über aktuelle Hilfsangebote und Ansprechpersonen im Kreisgebiet verschaffen.
Ina Küpperbusch setzt sich als neue Netzwerkkoordinatorin für den verbesserten Austausch und die Zusammenarbeit von Fachkräften aus den Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe, der Gesundheitshilfe, der Gemeindepsychiatrie und dem Suchthilfesystem ein. Sie ist erreichbar unter 02841/2021513 oder per E-Mail an ina.kuepperbusch@kreis-wesel.de
Agalja Uthayakumar berät Ratsuchende zwischen 15 und 25 Jahren sowie deren Angehörige und das soziale Umfeld, um ein geeignetes Angebot in den vorhandenen Strukturen zu finden und so eine bestmögliche Versorgung sicherzustellen. Sie ist erreichbar unter 0281/2077522 oder per E-Mail an agalja.uthayakumar@kreis-wesel.de
Dabei geht‘s nie um die Frage nach der Schuld, das betonen beide Expertinnen, sondern um Möglichkeiten für Lösungen. Wie wichtig diese Aufgabe ist, macht noch eine andere Zahl deutlich, die Ina Küpperbusch nun hervorholt: „Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass in jeder Klasse drei bis vier betroffene Kinder sind.“ Und diese Kinder brauchen Hilfe.