Düsseldorf. In diesen Tagen wird die schweigende Mehrheit laut. Hunderttausende gehen für Demokratie auf die Straße. Ein Hausbesuch in Düsseldorf.

Auf dem dunkelbraunen Esstisch liegt ein großes Stück Wellpappe, und darauf pinseln sie die Parole, mit der sie zeigen wollen, was sie vom Erstarken des Rechtsradikalismus halten: „Nie wieder ist jetzt.“ In die Ecken malt Annette Weh die Farben des Regenbogens. Eine bunte Gesellschaft ist ihr lieber als eine braune, und deswegen wird sie mit ihrem Lebensgefährten Carsten Zeier und seinem Sohn Lennart am Samstag zu der Großdemonstration gegen rechts nach Düsseldorf gehen.

Vennhausen im Osten der Landeshauptstadt Düsseldorf ist ein bürgerlicher Stadtteil. Viel Grün, viele Einfamilienhäuser. Bei den Landtagswahlen hat die AfD hier 5,5 Prozent geholt, nahezu exakt das Ergebnis, das sie landesweit einfuhr. Hier lebt die Patchwork-Familie Zeier und Weh in einer ruhigen Straße. Carsten, 54, Projektleiter, Annette, 55, Sozialarbeiterin, Lennart, 25, Pflegeschüler. Klassischer Mittelstand. Ein gemütliches Haus, viel Holz, sanftes Licht. Annette ist sofort beim „Du“.

Forscherin: Es sind nicht nur Aktivisten, sondern auch einfache Bürger

Seit den Enthüllungen über das Treffen von AfD- und CDU-Politikern mit Rechtsextremen in Potsdam, bei dem über die Deportation von Millionen Menschen gesprochen wurde, sind bundesweit Hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen, um für die Demokratie und gegen den rechten Rand zu demonstrieren. Bei den Demonstrationen sei eine Koalition von Bürgerlichen, Konservativen, Liberalen und Linken zu sehen, zitiert die „Tagesschau“ die Extremismusforscherin Julia Ebner. „Das waren nicht nur Aktivisten, sondern auch einfache Bürger.“

Nicht wenige demonstrieren zum ersten Mal. Für Carsten Zeier und Annette Weh wird es keine gänzlich neue Erfahrung sein, aber es ist viele Jahre her, dass sie zuletzt gegen etwas protestiert haben. Bei Carsten war es der Golfkrieg vor zwanzig Jahren, bei Annette die Stationierung der Pershing-2-Raketen vor fast vierzig Jahren. Eigentlich, sagt Annette, hatte sie vor, vor fünf Jahren mit für den Erhalt des Hambacher Waldes zu demonstrieren, in dessen Nähe sie aufgewachsen ist, sie sei dann aber doch nicht zu den Kundgebungen gereist. Aber jetzt, sind sie überzeugt, ist es an der Zeit.

Annette Weh: Es geht jetzt darum, solidarisch zusammenzustehen

Annette arbeitet in einer Grundschule, in der 95 Prozent der Kinder eine Zuwanderungsgeschichte haben. Kürzlich hat sie mit den Kleinen darüber gesprochen, wo sie herkommen und ob sie einen deutschen Pass haben. Ein türkisches Kind habe erzählt, dass sich seine Eltern angesichts der aktuellen Debatten Sorgen machen würden. Sie will das nicht. „Nordrhein-Westfalen hätte sich nie so gut entwickeln können ohne Zuwanderung.“ Nun sei es wichtig, solidarisch zusammenzustehen.

„Es geht jetzt darum, denen zu zeigen, dass sie gar nicht so viele sind“, sagt Carsten. Mit „denen“ meint er die Rechten, die von sich glauben, sie seien das Volk, die sich laut und krakeelend öffentlich Aufmerksamkeit verschaffen. Die „schweigende Mehrheit“, zu der Carsten und Annette in den vergangenen Jahren gehört haben, will nicht mehr leise sein: „Wir müssen jetzt zeigen, dass wir viel mehr sind als die. Auf dem Hintern sitzen ist nicht mehr das Wahre“, sagt Carsten.

Wir müssen jetzt zeigen, dass wir viel mehr sind als die. Auf dem Hintern sitzen ist nicht mehr das Wahre
Carsten Zeier

Die Demonstrationen seien „auf jeden Fall ein sehr starkes gesellschaftliches Zeichen, dass sich die gesellschaftliche Mitte zusammentut“, sagt Forscherin Ebner.

Einzig Lennart hat in jüngster Zeit Demonstrationserfahrungen gesammelt, er ist seit einem Jahr politisch aktiv und setzt sich vor allem gegen Rassismus ein. Er sagt, ihn hätten die Enthüllungen über das Treffen in Potsdam nicht sonderlich überrascht. „Aber jetzt ist etwas von der abstrakten Ebene heruntergerutscht. Es entsteht ganz konkrete Angst, und das treibt mich stark an.“

Großer Zulauf bei den Demos: „Wie ein Schneekönig gefreut“

Am vergangenen Wochenende wollten sie eigentlich schon in Köln demonstrieren, konnten aber krankheitsbedingt nicht. In den sozialen Medien habe sie gesehen, dass viele Bekannte und Freunde unter den 70.000 gewesen seien, die dort auf der Straße waren, erzählt Annette, darunter zahlreiche Leute, die vorher nie aktiv gewesen seien. „Ich habe mich wie ein Schneekönig gefreut.“

Forscherin Ebner hofft, dass die Kundgebungen „ein ganz klares gesamtgesellschaftliches Zeichen gegen Hass, gegen Rassismus und gegen Demokratiefeindlichkeit“ setzen.

In Vennhausen ist Annette, Carsten und Lennart klar, dass die aktuelle Bewegung vielleicht nicht auf lange Zeit anhalten wird. „Demos dieser Größenordnung wird es auf Dauer nicht geben“, ahnt Lennart. Aber „ich hoffe, dass es genug ist, um die Rechten aufhalten zu können“.

Großmutter: „Es ist die Hoffnung, dass es in den Köpfen bleibt“

Annette erinnert an die Demonstrationen der Klimaaktivisten von Fridays For Future, die längst nicht mehr den Zulauf früherer Jahre haben. „Aber die haben etwas bewegt und dazu beigetragen, dass sich die Leute bei uns in der Nachbarschaft für E-Autos oder Fotovoltaik-Anlagen interessieren.“ Vielleicht bleibe ja das Gemeinschaftsgefühl, vielleicht verschwinde der Alltagsrassismus ein wenig, vielleicht erreiche man Nichtwähler.

„Es ist die Hoffnung, dass es in den Köpfen bleibt“, sagt Gertrud Zeier. Sie ist Carstens Mutter, schon über achtzig und körperlich nicht mehr in der Lage, auf die Demonstration am Samstag zu gehen. Wäre es ihr möglich, wäre sie natürlich dabei, sagt die alte Dame.