Düsseldorf. 306 Gespräche über sexualisierte Gewalt in 2023 – 15-mal mehr als sonst – hat die Landeskirche geführt. Warum das ein gutes Zeichen ist.
301 Beratungsgespräche hat die „Ansprechstelle für den Umgang mit Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung“ bei der Evangelischen Kirche im Rheinland 2023 geführt. In den Jahren seit ihrer Einrichtung 2011 waren es 220 – insgesamt! Diese Zunahme um den Faktor 15 hält Juliane Arnold, psychologische Leiterin in der Evangelischen Hauptstelle in Düsseldorf, für einen Erfolg. Die Sensibilität bei übergriffigem Verhalten nehme zu, der Beratungsbedarf auch und damit, so hofft sie, auch die Transparenz.
Die Steigerung führt Arnolds auch auf die zahlreichen Schulungen zurück, die für Übergriffe stärker sensibilisiert habe. Bis Dezember seien 828 Schulungen mit über 10.000 Teilnehmern abgehalten worden. Es ist jedoch gut möglich, dass auf die Beratungsstelle ab der kommenden Woche noch weit mehr Arbeit zukommt.
Donnerstag erscheint die bundesweite Studie
Denn am 25. Januar will ein unabhängiger Verbund von Forscherinnen und Forschern in Hannover die sogenannte ForuM-Studie über Missbrauch im Raum der evangelischen Kirche in ganz Deutschland vorstellen. Erfahrungsgemäß lösen solche Publikationen bei vielen Opfern Erinnerungen aus und in vielen Gemeinden Verunsicherung und daher Beratungsbedarf.
„ForuM“ steht hierbei für: „Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland.“ Denn im Unterschied zur katholischen MHG-Studie hat diese Studie auch das Pendant zur katholischen Caritas, und alle kirchlichen Berufe und Ehrenamtlichen in den Blick genommen und bezieht sich nicht nur auf Kinder und Jugendliche, sondern auf alle Altersgruppen.
Andererseits, so räumte Pistorius ein, liege aufgrund des Umfangs und der Verfügbarkeit von Akten der Fokus der Studie voraussichtlich auf Pfarrerinnen und Pfarrer sowie Personen in Leitungsfunktionen, so Vizepräses Christoph Pistorius auf einer eigens zu diesem Themenschwerpunkt ausgerichteten Pressekonferenz der Synode der Rheinischen Landeskirche. Denn Akten über Ehrenamtliche, beispielsweise, gibt es wenn überhaupt nur auf Ebene der jeweiligen Pfarren.
„Auf landeskirchlicher Ebene sind im Rheinland bisher 70 Verdachtsfälle sexualisierter Gewalt bei Pfarrpersonen und landeskirchlichen Angestellten seit 1946 bekannt und wurden der ForuM-Studie nach Aktensichtung zur Verfügung gestellt, unterstützt durch einen Strafrichter“, so Pistorius, der die Stabsstelle Aufarbeitung und Prävention der Landeskirche leitet.
76 Verdachtsfälle sind im Landeskirchenamt bekannt
Die Erfahrungen zeigten, dass etwa je ein Drittel der Fälle Pfarrerinnen und Pfarrer betreffe, ein weiteres Drittel entfällt auf Beschäftigte in Kita, Kirche, Schule oder Diakonie und ein weiteres Drittel auf ehrenamtlich Tätige in der evangelischen Kirche. „In der 2021 eingerichteten Meldestelle der Landeskirche sind bis heute insgesamt 76 Meldungen von Verdachtsfällen eingegangen, die sich zum Teil auch auf Jahre zurückliegende Vorfälle beziehen. Diese Fälle stammen aus Gemeinden, Kirchenkreisen oder landeskirchlichen Einrichtungen.“ Beide Zahlen seien aber nicht zu addieren, da es eine Überschneidung in mindestens einem Drittel der Fälle gebe.
Neben der „großen“ Studie auf Landesebene wird es weitere lokale Aufarbeitungen geben, wo dies besonders nötig erscheint. So sei dies unter anderem für den Raum Düsseldorf geplant, eine weitere Studie soll Vorfälle in den Internaten der evangelischen Landeskirche begutachten, dies immer auch mit Blick auf die Strukturen, die die Übergriffe möglich gemacht hatten.
Eine erste derartige lokale Fallstudie hatte die Evangelische Kirche im März 2023 in Moers vorgestellt, wo es um die Aufarbeitung der Straftaten und Gewaltakte im Martinstift ging. Seit 2004 gab es in der rheinischen Landeskirche 28 Disziplinarverfahren im Zusammenhang mit Verstößen gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Vier davon laufen noch.
Die Verfahren betreffen insgesamt Kirchenbeamte, Lehrer und Pfarrpersonen. In elf Fällen wurde auch staatlicherseits ermittelt, bei fünf davon wurde das Strafverfahren eingestellt, vier davon mit „großem Freispruch“, eines gegen eine Auflage. Die Kirche habe aber trotz der Einstellung in drei Fällen selbstständig weiter ermittelt und in zwei Verfahren disziplinarrechtliche Maßnahmen ergriffen.
„Widerspricht allem, woran wir glauben“
„Menschen suchen in der Kirche Schutz und Hilfe für ihre Seele. Sexualisierte Gewalt widerspricht allem, woran wir glauben und wofür wir als evangelische Kirche stehen“, betonte Präses Thorsten Latzel. Die Kirche habe viele Lernschritte zu langsam vollzogen. „Menschen auf allen Ebenen unserer Kirche waren oft noch geprägt von einem Geist, der dem Schutz des Ansehens der Kirche oder von Amtsträgern einen zu hohen Stellenwert einräumt, höher als dem Leid von Betroffenen“, räumte Latzel ein. Man werde weiterhin mit größtmöglicher Transparenz aufklären, unter Wahrung des Opferschutzes und der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen, so der Präses.
„Schutz des Ansehens“ zu hoch bewertet
In der Hauptsache geht es in der Studie aber, allein aufgrund der Fülle des Materials, vorwiegend um sexualisierten Missbrauch von Pfarrpersonen und höheren Amtsträgern. „Das gehört zur Schuldgeschichte unserer Kirche und auch dafür können wir die betroffenen Menschen nur um Entschuldigung bitten.“ Der Umgang mit Missbrauch und sexualisierter Gewalt sei ein dauerhafter Lernprozess, betonte Latzel. Und dieser sei in der evangelischen Kirche wie auch in der Gesellschaft „bei Weitem nicht abgeschlossen“.