Moers. Die Evangelische Kirche im Rheinland stellte die Martinstift-Studie vor. Betroffene berichteten von Missbrauch, Prügel und fehlender Aufarbeitung.
Einen Einblick in erschreckende Abgründe im Schülerheim Martinstift in den 50er Jahren gab die Evangelische Kirche Rheinland. Sie hatte eine Studie in Auftrag gegeben und stellte die Ergebnisse in dem Gebäude vor, das heute die Musikschule beherbergt. „Aufarbeitung der gewaltförmigen Konstellation der 1950er Jahre im evangelischen Schülerheim Martinsstift in Moers“ heißt die Studie, die von April bis Dezember 2022 erstellt wurde. Erarbeitet wurde sie von der Bergischen Universität Wuppertal und der Fachhochschule Potsdam.
Schonungslos wurde am Donnerstag das Gewaltregime der Öffentlichkeit vorgestellt, mit dem Johannes Keubler, der damalige Heimleiter, seine ungefähr 70 Schüler über fast drei Jahre malträtierte. Der Leiter war Apotheker und Lehrer, prügelte und missbrauchte die meist sehr jungen Schüler zwischen zehn und zwanzig Jahren. Die beiden Betroffenen, Gerhard Stärk und Michael Nollau, lernten sich im Frühjahr 1954 in dem Schülerheim kennen. Da waren beide etwa zwölf Jahre alt.
Anfang der 50er Jahre wohnten die Schüler im Martinstift, besuchten das nahe gelegene Gymnasium Adolfinum und sollten – fernab vom Elternhaus – ein „von christlicher Hausordnung geregeltes Gemeinschaftsleben führen“. Pädagogisches Personal stand dafür jedoch nur eingeschränkt zur Verfügung. Die meisten Mitarbeitenden waren ohne eine entsprechende Qualifikation. Manche setzten sich daher auch mit Gewalt durch, heißt es in der Studie.
Kein Kontakt nach außen
Michael Nollau schilderte, warum Kinder gegen ein solches System nicht aufbegehren. „Wir haben in Zimmergemeinschaften gelebt und keinen Kontakt nach außen gehabt. Das hängt auch mit der Gewalterfahrung und der Scham zusammen.“ Er schilderte einen Anlass für einen Gewaltausbruch des Schulleiters: „Wenn ich meine Schublade nicht aufgeräumt hatte, musste ich zum Keubler und wurde verprügelt. Ich wusste, dass ein Anlass da war, ich hatte ein Unrecht begangen und die Bleistifte in meiner Schublade nicht sortiert. Als Kind sieht man diese Schuld, du hast wirklich ein Verbrechen begangen und wirst zu Recht bestraft. Das sind komplizierte, psychische Vorgänge, die dann stattfinden. Als Kind versucht man, so ein Verhalten zu entschuldigen.“
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Gerhard Stärk, der Freund von Michael Nollau erzählte über das Ende der schlimmen Zeit: „Keubler hat den benachbarten Schlafsaal von uns aufgesucht und sich an mehreren Kindern vergangen. Praktisch war der gesamte Schlafsaal dadurch aufgewacht. Die Kinder haben sich empört über ihren Heimleiter, der sie aus dem Schlaf geweckt hat.“ Einer habe beim Weggehen von Keubler gerufen „alte Sau, alte Sau“. Am nächsten Morgen hätten die Jugendlichen dieses Ereignis unter sich laut diskutiert.
„Der Hausmeister hat dieses Gespräch mitgehört und hat sofort in Langenberg angerufen bei der Verwaltung. Dort hat man dann die gesamte Leitung unverzüglich nach Moers geschickt. Keubler war zu dieser Zeit im Unterricht am Gymnasium in Homberg und wurde nach seiner Rückkehr gewissermaßen verhört. Er hat alles zugegeben, bekam dann die sofortige Kündigung und ein Hausverbot. Kurz danach hat er das Haus auf Nimmerwiedersehen verlassen.“
Der Mantel des Schweigens
In einem Prozess am Landgericht Kleve wurde Johannes Keubler im Mai 1956 wegen „Misshandlung und sittlicher Verfehlungen an zahlreichen Schülern zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Schlimme sei, erklärten die beiden Betroffenen, dass den Kindern auch hinterher in keiner Weise geholfen wurde. Niemand sprach mit ihnen, niemand arbeitete die unerträglichen und prägenden Geschehnisse auf. Sie wurden mit ihren Gewalterfahrungen alleine gelassen.
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Selbst bei den kriminalpolizeilichen Vernehmungen und der Gerichtsverhandlung, bei der die Schüler als Zeugen zur Aufklärung der Schuld von Keubler geladen waren, begleitete sie niemand. Es wurde das Mäntelchen des Schweigens über die brutalen Jahre gedeckt. Die Institutionen sollten nicht beschädigt werden und auch in den Elternhäusern ließ man die Kinder mit den traumatischen Erlebnissen alleine. Erklärtes Ziel des damaligen Vereinsvorstands war es vielmehr, im Martinstift wieder Ruhe einkehren zu lassen, damit „diese Dinge abklingen“. So zitiert es die Studie.
Erst als einer der Betroffenen 2019 über seine Pläne erzählte, dass er einen Antrag auf Wiedergutmachung stellen werde, merkte sein Freund, wie wenig sie über ihre Zeit im Martinstift wussten. „Wir waren zwar gewissermaßen Akteure, haben es aber nicht verstanden, was da los war.“ Aus eigener, leidvollen Erfahrung berichteten sie, dass sie „dankbar und heilfroh sind, dass endlich die Aufarbeitung der schrecklichen Zeit auch innerhalb der Kirche beginnen kann.“