Am Niederrhein. Der Streit zwischen weltlicher und kirchlicher Macht hat Europa lang geprägt. 1873 kam es in Kevelaer zum Protest gegen staatliche Maßnahmen.
Die Auseinandersetzungen zwischen weltlicher und kirchlicher Macht prägten über Jahrhunderte die europäische Geschichte. Die Sicherung eigener Machtbefugnisse und die Beibehaltung von Einflusssphären war dabei oft Leitschnur des Handelns. Die Kämpfe zwischen Kaiser und Papst begleiteten das gesamte Mittelalter und gipfelten in dem legendären Gang nach Canossa durch Kaiser Heinrich IV. im Jahre 1077, der sich der Vorherrschaft des Papstes Gregor VII. unterwerfen musste. Jedes Schulbuch enthält diese Geschichte.
Vergleichbar war die Situation heute vor 150 Jahren, als das deutsche Kaiserreich und die katholische Kirche um die Bestimmungshoheit in staatlichen und gesellschaftlichen Aufgabenfeldern rangen. Die Kontroversen betrafen die Einflussnahme insbesondere der katholischen Kirche bzw. ihrer Würdenträger in politischen Fragen des neu entstandenen Staates sowie die Zuständigkeit in hoheitlichen und Erziehungsaufgaben. Was aus unserer heutigen säkularisierten Sicht vielleicht eher nebensächlich oder gar unbedeutend erscheint, war im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts nicht eine reine Prestigefrage, sondern eine handfeste Auseinandersetzung darüber, wer in diesen Fragen die Regelungskompetenz besaß.
Ungehorsame Bischöfe
Worum ging es? Das 1. Vatikanische Konzil 1870 hatte die Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubens- und Sittenfragen sowie dessen Position als höchste Rechtsgewalt (Jurisdiktionsprimat) ausdrücklich beschlossen. Dagegen wandte sich der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck, der bereits 1871 im sogenannten „Kanzelparagraphen“ des Strafgesetzbuches politisch missliebige Äußerungen von Vertretern der Kirche unter Strafe stellen ließ. 1872 folgte der Hinauswurf der Ordensbrüder durch das Jesuitengesetz. Im Jahre 1873 griff der Staat dann in innerkirchliche Belange ein, indem er die Inhalte für die Ausbildung zum Priesteramt regelte und eine staatliche Prüfung vorsah. Die Berufung zum Priester unterlag darüber hinaus einem Genehmigungsvorbehalt des Oberpräsidenten der jeweiligen Provinz. Diesem Gesetz vom 11. Mai 1873 folgte am Tag darauf die Einschränkung der kirchlichen Disziplinargewalt durch die Einrichtung eines königlichen Gerichtshofes in Berlin. Ungehorsame Bischöfe konnten dadurch von einem Gericht abgesetzt werden.
Dagegen lief die katholische Kirche Sturm. Zahllose Schriften gegen diese staatliche Bevormundung befeuerten den Protest. Im Oktober 1873 versammelten sich 25.000 Katholiken in Kevelaer bei einer Protestveranstaltung, auf der der Mainzer Erzbischof von Ketteler diese Maßnahmen scharf verurteilte. Auf der Grundlage des „Kanzelparagraphen“ wurde er nach seiner Ansprache verhaftet und zur Höchststrafe von zwei Jahren Festungshaft verurteilt. Es kam aber noch schlimmer für die Kirche: Im Mai 1874 und im Mai 1875 wurden per Gesetz weitere Maßnahmen beschlossen. Widerständigen Priestern drohten Aufenthaltsbeschränkungen oder im schlimmsten Fall gar Ausweisung. 1875 ereilte ein Verbot sämtliche Orden und Kongregationen, die nicht der Krankenpflege verpflichtet waren. Diese sogenannten „Maigesetze“ bildeten einen vorläufigen Höhepunkt im von den Zeitgenossen so bezeichneten Kulturkampf zwischen Staat und Kirche. Papst Pius IX. erklärte die erlassenen Gesetze für ungültig und trug so zur Verschärfung der Situation bei, die gleichsam zu einer persönlichen Auseinandersetzung zwischen ihm und Reichskanzler Otto von Bismarck ausartete.
Exil im Ausland
In der Folgezeit mussten zahlreiche kirchliche Einrichtungen wie Klöster, Konvente und Seminare geschlossen und aufgegeben werden. Dem betroffenen Personenkreis blieb oft keine andere Wahl als die Abwanderung ins ausländische Exil. Der Protest aber blieb, führte zur weiteren Verschärfung der Streitigkeiten zwischen katholischer Bevölkerung und protestantisch dominiertem Staat und resultierte in der Gründung einer politischen Partei, dem Zentrum. Diese neue Kraft sah sich als Interessenvertreterin der katholischen Bevölkerung und sollte die Politik im Kaiserreich und Republik für die nächsten 80 Jahre mitbestimmen.
>>> Beilegung des Streits
Bereits bei den nächsten Reichstagswahlen 1878 stellte das Zentrum die stärkste Fraktion. Da sich mit der erstarkenden Arbeiterbewegung jedoch schon die nächste Konfrontation andeutete, war Bismarck auf ein Arrangement mit dem Zentrum angewiesen.
Der Tod von Pius IX. im selben Jahr ermöglichte ebenfalls die Beilegung des Streits mit den Katholiken ohne Gesichtsverlust. Als Resultat blieb aber die Einführung der Zivilehe und die Durchsetzung der staatlichen Schulaufsicht erhalten.
Kirchliche Einrichtungen wie die im Jahre 1900 zwischen Wachtendonk und Kempen gegründete Abtei Mariendonk durften jedoch nach der endgültigen Beilegung des Streits zwischen dem Vatikan und der Reichsregierung wieder eröffnet werden.