An Rhein und Ruhr. Beim Containern retten Michél und Tim regelmäßig Lebensmittel aus Supermarkttonnen – und machen sich strafbar. Die NRZ hat sie auf Tour begleitet
Die Sonne ist noch nicht untergegangen, nur langsam legt sich Nebel auf die leeren Straßen Wuppertals. Michél und Tim lehnen am Auto vor dem Bahnhof Vohwinkel, eine Zigarette steckt in Tims Hand, als sich beide miteinander unterhalten. Jeden Sonntag treffen sie sich hier, bevor sie gemeinsam auf Tour gehen, das bedeutet: Sie gehen „containern“, fahren also eine Reihe von Supermärkten ab und schauen, ob sie noch etwas Essbares in den Tonnen finden, was der Laden entsorgt hat – dabei machen sie sich nicht nur manchmal schmutzig, sondern auch strafbar – noch.
Auch heute haben sie einen Plan gemacht, meistens dauere eine Tour zwischen vier bis fünf Stunden, erklärt der 28-jährige Michél aus Erkrath. „Wir planen immer so, dass die Strecke Sinn ergibt und klappern dann die Läden ab“, fügt Tim hinzu. Der 35-jährige Solinger ist Vater von fünf Kindern, arbeiten kann der ehemalige Möbelmonteur aufgrund seines gesundheitlichen Zustandes nicht mehr. Schon am Frühstückstisch heute Morgen habe er Produktrückrufe der angepeilten Supermärkte gecheckt, um sicherzugehen, dass die Produkte, die er später finden wird, kein gesundheitliches Risiko mit sich bringen – vorbereitet ist er also.
Zwar ist es noch hell draußen, abschrecken lassen sich die beiden davon aber nicht. Auf dem Parkplatz des ersten Geschäfts ziehen sie sich ohne zu zögern ihre Handschuhe an und öffnen den Unterstand, unter dem der Discounter seine Mülltonnen versteckt hat – dabei wirken die beiden jungen Männer routiniert. Zitronen, Kartoffeln und Toastbrot holen sie aus der Tonne.
Und das ist noch nicht alles: sechs offensichtlich noch gefrorene Packungen Fischfilet hält Tim in der Hand. „Die hatten vielleicht ein Problem mit der Truhe, aber das nehme ich dann mit und schaue Zuhause, ob es noch essbar ist“, sagt der Solinger und legt die Beute in eine Tasche, die Michél ihm reicht.
Schokolade, die bis Dezember haltbar ist
Leer ist es auf dem Parkplatz an diesem Sonntag. Gegenüber stehen Häuser, von deren Fenstern man die Mülltonnen einsehen kann. „Ich bin da etwas vorsichtiger als Tim, deswegen will ich hier eigentlich auch schnell wieder weg“, sagt Michél. Zwei volle Taschen mit Lebensmitteln laden sie ins Auto ein, bevor sie sich auf den Weg zum nächsten Geschäft machen.
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Nur ein paar Minuten später bemerken sie auf dem Rewe-Parkplatz Licht im Lager. „Das ist mir dann etwas zu heikel“, sagt Michél und bleibt stehen. Anders aber Tim. „Ich bin da schmerzfrei, ich gehe mal gucken“, ruft er seinem Freund zu, während er weiter zur Laderampe vorläuft. Zwischen Altpapier und Plastiktüten voll Verpackungsmüll schaut er in die Mülltonnen. Stolz präsentiert er eine Tafel Milka-Schokolade. Haltbar bis Ende 2023 – aber zerbrochen. „Von zerbrochener Schokolade stirbt man ja bekanntlich“, sagt er und lacht, als er sich die Errungenschaft in seine Jackentasche steckt.
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Kennengelernt auf Facebook
Die beiden sind „Profis“ auf ihrem Gebiet. Kennengelernt haben sie sich durch eine Container-Gruppe auf Facebook, Michél war auf der Suche nach jemandem, der mit ihm gemeinsam auf Tour geht und fand seinen Kompagnon in Tim. Seit seiner Jugend ist Michél zwischen den Tonnen der Supermärkte unterwegs, im letzten Jahr hat er sein Rechtswissenschaften-Studium aufgrund fehlender finanzieller Mittel abbrechen müssen. Jetzt lebt er vom Bürgergeld, seine Nahrungsmittel findet er fast ausschließlich im Müll. Einkaufen geht er nur selten. So auch sein Freund Tim. Trotz fünf Kindern gebe er im Monat für Lebensmittel zwischen 50 bis 60 Euro aus, neben dem Containern besucht er auch die Tafel.
Kameras sind kein Hindernis
Doch nicht nur aus finanziellen Gründen wühlen die beiden jede Woche in den Tonnen der Supermärkte. „Wir machen das aus Überzeugung“, stellt Michél klar. „Wenn ich sehe, wie viele gute Sachen im Müll landen, dann bricht es mir ein stückweit auch mein Herz“, sagt der 28-Jährige. „Jeden Tag sterben Menschen auf der Welt, weil sie nichts zu essen haben und hier wird alles weggeschmissen, da kriege ich das reine Kotzen“, äußert Tim seinen Unmut. Mit seinen Kindern spreche er offen über die Thematik. „Vor kurzem war mein siebenjähriger Sohn auch bei einer Tour dabei“, erzählt der 35-Jährige mit Stolz.
Bisher hatten beide Glück: Erwischt von der Polizei wurden sie noch nicht. Falls es doch mal dazu kommen sollte, setzen sie auf das Herz des Filialleiters, der im Endeffekt darüber entscheidet, ob er Anzeige erstattet, oder nicht. Vorsichtig ist Michél trotzdem. Beim nächsten Laden angekommen, stellt er sein Auto ein paar Meter entfernt ab. „Hier sind Überwachungskameras, da muss ich nicht direkt vor parken.“ Auf der Laderampe geht die Suche weiter: Einen Bund Lauchzwiebeln holt der ehemalige Student aus der Tonne. „Die schneide ich dann klein und friere sie ein“, so der Erkrather. Zwar waren die beiden beim Abstellen des Autos vorsichtig, die Kameras scheinen sie aber von der Suche nach Lebensmitteln nicht abzuhalten. „Hier gibt es glaube nicht so viel“, ruft Tim seinem Kumpel zu. Zum Abschied schauen beide in die Kamera, machen ein kleines Handzeichen zum Dank. „Das machen wir öfter so.“
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Mittlerweile sind die beiden schon mehrere Stunden unterwegs, die Sonne ist längst untergegangen. Gemeinsam stehen sie vor der Laderampe eines Aldi-Marktes, neben ihnen das Auto, auf dessen Dach zwei Tulpensträuße liegen, die sie gerade in den Tonnen gefunden haben. In Ruhe stecken sich beide eine Zigarette an, die Taschenlampe in Tims Hand bringt Licht in die Dunkelheit. Im Kofferraum zweieinhalb Taschen voller Lebensmittel, die sie mit nach Hause nehmen. „Das ist nicht so viel“, stellt Michél fest und erzählt von einem Mal, als sie 80 Liter gute Milch im Müll fanden.
Zwar sei die heutige Tour im Vergleich weniger erfolgreich gewesen, vielleicht aber haben sie ja in einer Woche mehr Erfolg, wenn sie – ausgestattet mit Handschuhen und Tragetaschen – zwischen den Containern umherstreifen, um noch gute Lebensmittel aus dem Müll zu retten ...