Essen. Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck hat als Reaktion auf eine Studie zu sexuellem Missbrauch in seinem Bistum konkrete Verbesserungen angekündigt.
Das Bistum Essen wird die Entschädigung von Missbrauchsopfern nicht durch den Hinweis auf Verjährung abweisen und sich zudem für deutlich bessere und nachvollziehbarer Entscheidungen bei Entschädigungsleistungen einsetzen. Das kündigte Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck bei der Vorstellung der Stude zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Essen an.
Jetzt also Essen: Nachdem im Juni 2022 das Bistum Münster seine Studie zu den Missbrauchsfällen vorgestellt hat und das Bistum Köln immer noch mit den Folgen seiner 2021 veröffentlichen Studie ringt, hat am Dienstag das Ruhrbistum die Ergebnisse seiner Untersuchung vorgelegt. Besser gesagt: Es geht - am Namenstag des Heiligen Valentins, des Schutzpatrons des Liebende – an die Öffentlichkeit, mit den Erkenntnissen, die die Forscher hier zusammengetragen haben.
Die wichtigsten Erkenntnisse: Die Bistümer haben auffällig gewordene Priester immer wieder über Gemeinde- oder Bistumsgrenzen hin und her geschoben und ihnen so die jahrzehntelange Fortsetzung ihrer Verbrechen ermöglicht. In einer Bottroper Gemeinde haben sich offenbar sogar aufeinanderfolgende Priester darüber verständigt, wer aus der Gemeinde als Opfer in Frage kam. Derartige Strukturen in der Kirche aufzudecken, die den Missbrauch erst möglich machten, war eine der Hauptaufgaben des Münchener Insituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP).
Diesen etwas anderen Weg der Aufarbeitung kann das Bistum gehen, da es bereits sehr früh, im Jahre 2012 alle 1549 Personalakten von einer Rechtsanwaltskanzlei auf Missbrauchsverdacht hat prüfen lassen - in 41 Fällen gingen die Akten an die Staatsanwaltschaft, um auch nach weltlichem Recht die Fälle beurteilen zu lassen. Neue, auch nach weltlichem Recht justiziable Verbrechen haben die IPP-Forscher nicht ermittelt, die Fallzahlen allerdings sind weiter gestiegen, nicht zuletzt, weil nunmehr auch Ordensfrauen und Laien als Täter mit in den Fokus gerieten. Allerdings: Rund die Hälfte der 190 Täter waren Gemeindepriester, in je knapp 20 Fällen waren es Ordensleute beiderlei Geschlechts.
„Wir müssen als Bistum ehrlich sein: Es hat in der Vergangenheit in unserer Bistumsverwaltung massive Versäumnisse bis hin zur aktiven Vertuschung gegeben“, sagte Overbeck am Dienstag in Essen. „Die abscheulichen Taten von Priestern“ seien „vertuscht, klein geredet oder durch Versetzungen und Lügen verheimlicht“ worden.
Den Opfern habe das Bistum oft keinen Glauben geschenkt. Dahinter habe auch die Vorstellung gestanden, „dass zuallererst die Kirche und ihre Priester zu schützen seien“. Auch in jüngeren Jahren sei das Bistum „noch allzu oft von diesen Situationen massiv überfordert“ gewesen, sagte Overbeck, der seit 2009 Bischof in Essen ist. Was seinen Amtsvorgänger Felix Genn, heute Bischof von Münster anging, sagte Studienleiterin Helga Dill: „Es gibt keinen Nachweis konkreten Versagens im Einzelfall. Aber er war letztverantwortlich.“ Genn war von Mitte 2003 bis Ende 2008 Bischof von Essen.
Die Essener wollen indes durch die Studie nicht (nur) Schuld und Schuldige ermitteln, sondern mehr leisten. Denn, so Bischof Overbeck: „Missbrauch ist systemisches Problem der gesamten katholischen Kirche.“ Vor knapp drei Jahren hat das Bistum daher das Münchener Institut für Praxisforschung und Projektbewertung (IPP) beauftragt, mehr zu leisten.
Eine wichtige Erkenntis dabei: Ganze Gemeinden sind durch den Missbrauch gespalten worden. Denn: „Gerade auf Gemeindeebene gab es Empathie und Sympathie für die Täter. Das ist doch unser Pfarrer und die da oben neben uns den weg.“, das sei eine der möglichen Reaktionen gewesen, so Helga Dill. Priester hätten ihre „Fanclubs“ in Gemeinden habt und diese gezielt genutzt, um auch nach ihrem Weggang die Opfer und ihre Familien auszugrenzen. „Geweiht, gottnah, unangreifbar“, das sei ein spezifisch katholisches Jobprofil, das hier den Tätern in die Hände spielt, so Dill.
Man solle indes nicht glauben, dass allein der Verzicht auf den Zölibat hier ein Problemlöser wäre, auch wenn dessen sozialpsychologische Folgen bislang in der Kirche und der Priesterausbildung kaum debattiert wurden, so Dill, die von „eigenwilligen Sozialisationsmilieus“ sprach, in den Priester herangebildet wurden, die kaum alltagskompetent und unreif in Fragen von Sexualität und Beziehung seien. Dies würden viele durch Machtausübung Narzissmus und auch Machtmissbrauch überkompensieren.
Sogar der Strukturreformprozess, mit dem das Bistum auf Priester- und Geldmangel reagiert, wurde von den Tätern missbraucht, die sich in einigen Fällen zu Verteidigern und Rettern existierender Gemeinden stilisierten. „Diese Dynamiken wirken über Jahre und Jahrzehnte in den Gemeinden nach und sind mit großem menschlichen Leid verbunden und beeinträchtigen das Gemeindeleben“, heißt es in der Studie.
Die Forscher sind über dieses Ergebnis mehr als irritiert: Nahezu durchgängig haben wir beobachtet, dass sich größere Teile der Gemeinde mit dem Täter solidarisieren.“ Die Bischöfe haben tatenlos zugeschaut, sind in den Gemeinden nicht eingeschritten, auch wenn sie von den Vorwürfen wussten. „Uns ist nicht klar geworden, was das Bistum eigentlich daran gehindert hat, die Gemeinden besser zu informieren“, sagen die Wissenschaftler.
Künftig, so die Zusicherung des Bistums, werde man deutlich transparenter die Delikte benennen, um der Gemeinden selbst, die sich teils vor „ihre“ Pfarrer stellten. Daher gehören zur Studie auch Diskussionen mit betroffenen Gemeinden, die zum Teil schon vor der öffentlichen Vorstellung über Inhalte und Ergebnisse informiert wurden.
Einige Opfervertreter kennen Studie bereits - und loben sie
Tatsächlich ist es bei der Präsentation der zahlreichen Studien immer noch etwas Besonderes, dass Opfervertreter direkt mit zu Wort kommen, betonte Johannes Norpoth, Sprecher des Betroffenenbeirates bei der Deutschen Bischofskonferenz und selbst im Ruhrbistum Opfer geworden. Er forderte eine „wirkliche Anerkennung mit spürbarem Schadensersatz“. Zudem seien Ansätze wie der Synodale Weg wiochtig. „Ohne aus der Vergangenheit zu lernen, ohne die Vergangenheit zu befrieden, wird es keine Zukunft geben – auch nicht im Bistum Essen.“
Das, so Generalvikar Klaus Pfeffer, muss sich ohnehin von seiner Glorifizierung als „bodenständig“ und „nah bei den Menschen“ verabschieden. Auch das Bild des legendären Gründungsbischofs Franz Kardinal Hengsbach, der bis 1991 im Amt war, muss zumindest korrigiert werden. Stephan Bertram, ein weiteres MIssbrauchsopfer, das auf der Pressekonferenz auftrat machte dies deutlich: „Ich bin von der katholischen Kirche missbraucht worden, also soll sich die Kirche auch darum kümmern“. Der 59-Jährige erzählte, er habe aufgrund des Missbrauchs nie einen Berufsabschluss geschafft. „Mit 25 wollte ich mir das Leben nehmen. Mein Leben ist für mich verkorkst.“ Der Täter habe ihm gedroht: „Wenn du das sagst, dann nimmt dich dein Vater in den Keller und verprügelt dich. Dir glaubt sowieso keiner!“ Er habe jetzt mehrfach Gelegenheit bekommen, seine Geschichte zu erzählen und werde das auch im Priesterrat des Bistums tun.
Auch die Sozialforscher lobten: Es sei im Ruhrbistum in den vergangenen Jahren viel geschehen, um Missbrauch zu entdecken und zu vermeiden. Prävention und Schulung würden sehr engagiert vorangetrieben. „Das weist in die richtige Richtung.“ Allerdings dürfe man mit dem Weiterreichen dieser Prozesse in die Gemeinden die Beteiligten vor Ort nicht überfordern. Die Kirchengemeinden bräuchten dringend Unterstützung, auch um Gemeindemitgliedern die Möglichkeit zu geben, ihre eigenen Versäumnisse zu reflektieren. Das sei ein hoch emotionaler Prozess. „Aber wenn man das gut macht, dann haben alle etwas davon.“ Dazu brauche man aber zusätzliche bezahlte „Präventionskräfte“ in jeder Pfarrei.
Bischof Overbeck: Wir stehen immer noch am Anfang
„Ich werde zukünftig die Betroffenen wie auch die Kirchengemeinden noch stärker in den Blick nehmen“, versprach Overbeck am Dienstag. Das Bistum müsse insgesamt professioneller im Umgang mit dem Thema sexueller Missbrauch werden - etwa im Personalbereich und in der Kommunikation mit Opfern und betroffenen Kirchengemeinden. Noch in diesem Jahr solle es zudem verlässliche Regeln geben, wie das Bistum etwa Therapiekosten übernehmen und auch darüber hinaus „unbürokratische Hilfen“ leisten könne. „Oft stehen wir, denke ich, immer noch am Anfang“, sagte der Ruhrbischof.
Im Jahr 2020 waren nach Bistumsangaben an der Ruhr 99 Opfer von sexuellem Missbrauch bekannt. 63 Diözesanpriester wurden zu diesem Zeitpunkt beschuldigt. Aktuelle Zahlen würden ermittelt, sagte Bistumssprecher Ulrich Lota. Missbrauch ein „über Jahrzehnte verbreitetes Phänomen“ im gesamten Bistum gewesen, sagt Lota. Das Bistum rechnet damit, dass auch die Vorstellung der Studie dazu führen kann, dass sich weitere Betroffene melden werden. Das Ruhrbistum hat dazu eine Hotline eingerichtet: Zur Studienveröffentlichung gibt es bis zum 19. Februar täglich von 12 bis 20 Uhr eine kostenfreie Beratung unter 0800/333 9 444.
Ein Fall hat Folgen bis zum Papst
Zu den öffentlichkeitswirksamsten Fällen, von denen die Studie sechs exemplarisch aufarbeitet, gehört der Fall des Kaplans H. aus Bottrop. Dort wurde H. in den 70er Jahren auffällig, daraufhin nach Essen versetzt und schließlich nach Bayern in Therapie gegeben, aber nicht entlassen. Obwohl er 1986 eine Gefängnisstrafe auf Bewährung erhielt, wurde er weiter in Gemeinden eingesetzt, bis ihn Overbeck 2010 in den Ruhestand schickte und ihm die priesterlichen Dienste untersagte.
Die Frage, ob der dort zuständige Erzbischof von München und Freising in den 80ern davon erfuhr und ihn womöglich sogar aufgesucht hat, führt bis an die Spitze der katholischen Kirche: Der Ende 2022 gestorbene Joseph Ratzinger, Papst Benedikt, nahm das Geheimnis mit ins Grab, verteidigte aber bis fast zum letzten Atemzug seine Unschuld.
Fünf weitere vergleichsweise prominente Fälle haben die Forscher herausgearbeitet, um daran die erwähnten missbrauchsfördernde Stukturen aufzuzeigen. Die Folge eines Missbrauchs war in aller Regel, den Täter, meist ein Priester, zu versetzen. In schwereren Fällen in ein anderes Bistum, manchmal sogar auf einen anderen Kontinent. Das ebenfalls in Essen ansässige, aber nicht dem Bischof unterstellte Bischöfliche Hilfswerk Adveniat hatte in den 70er und 80er Jahren beinahe als eine Art Fluchthelfer-Organisation gearbeitet und auffällige Priester aus Deutschland in Lateinamerika eingesetzt, wie sich im August 2022 zeigte.
Reformbischof im Konflikt mit Rom
Wie (und ob überhaupt!) aufgearbeitet wird, wie ein Bistum in der Vergangenheit mit den Untaten seiner Priester und Beschäftigten umgegangen ist und wie die Opfer gehört und entschädigt werden, entscheidet jedes Bistum für sich selbst. Die meisten Bistümer in Deutschland haben irgendeine Form der Aufarbeitung in Angriff genommen. Die meisten lassen Juristen ran, das hat den Vorteil, dass man sie direkt an der Hand, wenn es gilt sich zu verteidigen. Das Erzbistum Köln hat das so gehalten, gleich mit zwei Studien und mit vielen Gerüchten und vor allem nicht mit dem Ergebnis, in irgendeiner Form die Situation befrieden zu können.
Im Gegensatz dazu gilt Bischof Franz-Josef Overbeck als eher „linker“ Bischof und ausdrücklicher Anhänger des Synodalen Weges zur Erneuerung der katholischen Kirche - vielleicht auch, weil er in Erwartung dessen, was die Studie zutage fördert, auch mit Vorschlägen zur Reform des Priesteramtes und der kirchlichen Strukturen rechnet, die sich mit den Traditionen der katholischen Kirche kaum in Einklang bringen lassen. „Ziel ist es, Erkenntnisse zu erhalten, anhand derer Strukturen überprüft und verändert werden können, um Missbrauch in Zukunft konsequent zu bekämpfen.“ heißt es ausdrücklich in der Aufgabenbeschreibung.