Essen. Offenbar diente ein Büro der Kirche auch dazu, Priester zu versetzen, denen hier Strafverfolgung drohte. Gutachterin nennt Details.
Die Strukturen sind einigermaßen kompliziert, der Sachverhalt jedoch in vielen Fällen erschütternd einfach: Etliche katholische Bistümer in Deutschland haben über ein Vermittlungsbüro Priester nach Südamerika „entsorgt“, die hierzulande wegen Missbrauchsdelikten zumindest Gerüchten, oft genug aber auch Strafverfolgungen ausgesetzt waren. Eine Gutachten enthüllt nun die Strukturen – und etliche Fälle, die bis weit in die 2000er-Jahre reichen.
Zuständig für die „Fluchthilfe“ und die Verschleierung war das Koordinierungsbüro „Fidei Donum“, das in Personalunion bis heute vom jeweiligen Geschäftsführer des kirchlichen Hilfswerks Adveniat geführt wird – dessen Kompetenz in Südamerika wurde offenbar auch fürs Tarnen und Vertuschen von Missbrauchstätern genutzt.
An einigen Stellen ihres knapp 150-seitigen Gutachtens wird Rechtsanwältin Bettina Janssen sehr deutlich: „Nach vorstehender Prüfung des zur Verfügung gestellten Aktenmaterials hat Emil Stehle in seiner Zeit als Leiter der Fidei Donum-Koordinationsstelle in drei Fällen zur Vertuschung von Straftaten beigetragen.“
Fidei Donum – das steht für „Geschenk des Glaubens“. Das „Geschenk“ war offenbar oft genug vergiftet – bis weit in die 2000er Jahre hinein. Eindrucksvoll wird dies vor allem im Fall Nummer 13 von Gutachterin Dr. Bettina Jansen aufgearbeitet.
Missbrauch im Kinderdorf - und alle schweigen aus Angst um die Spenden
So dauerte es sieben Jahre, bis das Bistum Münster sich um die Strafverfolgung eines ihrer Priester machte. Seit 1996 in Lateinamerika eingesetzt, gab es 2008 eine erste Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen. 1999 gründete der noch lebende Priester ein Kinderdorf. Die Belegschaft wahrtet das offene Geheimnis aus Sorge die Finanzierung aus Deutschland zu verlieren. Bis 2007 förderte Adveniat das Projekt. Dann sagte eine erste Zeugin aus, dass der Priester seit Jahren Jugendliche des Kinderheims missbrauche. Eine junge Frau aus Deutschland, die ihr freiwilliges soziales Jahr in dem Kinderdorf leistete, brachte den Fall ins Rollen.
2008 setzte eine kircheninterne Untersuchung ein, 2009 erhielt der Priester von einem weltlichen Gericht eine Bewährungsstrafe, ab 2012 durfte er kein Priester mehr sein. „Sieben Jahre waren seit der Anzeige der jungen Frau im Februar 2007 beim Bistum vergangen - was allein schon angesichts der Tatschwere als sehr lang erscheinen muss“, so dier Gutachterin.
Dieser Vorwurf, Fall Nummer 13, trifft zumindest zum Teil den heutigen Essener Adveniat-Bischof Franz-Josef Overbeck, der in der Zeit der ersten Anzeige, Diözesanadministrator des Bistums Münster war – Verwalter in der Zeit zwischen zwei „regulären“ Bischöfen.
Ins Rollen gekommen ist die Aufarbeitung der Missstände vor allem aber durch die Aufarbeitung des üblen Wirkens von Emil Stehle. Er war Geschäftsführer der Koordinierungsstelle Fidei Donum und gleichzeitig – von 1972 bis 1984 – auch Leiter des Lateinamerika-Hilfswerks „Adveniat“. Ob es Verknüpfungen zwischen Hilfszahlungen aus Deutschland und der Übernahme personeller „Altlasten“ gab, ist nicht belegt.
Rechtsanwältin Bettina Janssen hat für die Untersuchung Akten und Gesprächsprotokolle ausgewertet, wie die Bischofskonferenz mit Sitz in Bonn am Montag mitteilte. Die Vorwürfe gegen Stehle waren bereits im Zuge einer Missbrauchsstudie im Bistum Hildesheim im September 2021 bekannt geworden. Adveniat mit Sitz in Essen hatte damals mitgeteilt, dass Stehle an der Vertuschung und Identitätsfälschung für einen Priester beteiligt gewesen war, der wiederholt Minderjährige sexuell missbraucht hatte.
Bei drei Priestern, die sich durch Flucht nach Südamerika hiesiger Strafverfolgung entzogen, halfen sich nach der Aufnahme im Bistum von Encarnación in Paraguay gegenseitig – offenbar mit Unterstützung des dortigen Bischofs Juan Bockwinkel. Er, so die Gutachterin, „zeigte sich für die Aufnahme von belasteten Fidei Donum-Priestern offen.
„Vergelt’s Gott!“: 10.000 Mark für Fluchthelfer Stehle
Womöglich hat er für sein Entgegenkommen eine, wie auch immer geartete, Honorierung erhalten. Dies ist zwischen den Zeilen zu lesen, es fand sich in den vorgelegten Akten jedoch kein konkreter Beleg“, so Bettina Jansen. Einer der (mutmaßlichen) Täter spendete selbst: 10.000 Mark für Emil Stehle, versehen mit dem Hinweis „Vergelt’s Gott!“.
Selbst wenn, wie in Kirchenkreisen lange Zeit üblich, offenbar niemand einen Gedanken an Opfer oder an Aufklärung verschwendete, so ging Stehles Wirken weit über das übliche Totschweigen hinaus: In einem Fall half er mit, die Identität eines von der Staatsanwaltschaft verfolgten Priesters zu fälschen und sorgte dafür, dass er monatlich eine Zahlung von 200 Mark von der Bischofskonferenz bekam.
Der Strippenzieher und Fluchthelfer Emil Stehle, 1926 nahe des Bodensees geboren, war in Kirchenkreisen ein geachteter Mann, 1994 wurde er gar für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, 1983 zum Bischof geweiht. Im Ruhestand nach 2002 lebte er bis 2017 unbehelligt in Konstanz.
„Stehle lud nahezu jeden zur Fidei Donum-Gemeinschaft ein. (...) Es ging um die Stärkung des priesterlichen Männerbundes. Alles Weitere schien nicht hinterfragt: Weder die Herkunft, noch die seelsorgerische Qualifikation, noch die Bereitschaft zum Einhalten von Regeln und Verbindlichkeiten“, so das Fazit der Gutachterin.
Auch Mitarbeiterinnen von Adveniat in Essen betroffen
Das Bischöfliche Hilfswerk Adveniat erläuterte gegenüber der NRZ, bei allen Projekten, bei denen Zweifel bestehen, die Finanzierung mit sofortiger Wirkung eingestellt zu haben. An 2023 müssen alle Projekte, die weiter Unterstützung bekommen wollen, ein Präventionskonzept gegen sexuellen Missbrauch vorlegen.
Die Essener Zentrale des Hilfswerks ist selbst betroffen: Emil Stehle, so zitiert die Gutachterin eine Zeugin, hatte ein festes „Beuteschema“: „Frauen, um die 18 Jahre alt, gut katholisch erzogen, sexuell unerfahren, vom Dorf, idealistisch und mit romantischen Flausen im Kopf.“ Stehle machte Vorschriften, wie sie sich zu kleiden hatten, begrabschte und küsste er sie – solange sie nicht knallhart Grenzen zogen und mit Offenlegung drohten.