Wesel. Eigentlich wollten Bärbel Vößing und Dirk Becker auf ihrem Naturhof in Wesel einen tiergerechte Milchviehbetrieb aufbauen. Jetzt kommt’s anders.
Helga und ihre Freundinnen werden langsam unruhig, weil sie jetzt auf die Weide möchten! Ja, nur Geduld, gleich geht’s los… Dirk Becker streichelt der Kuh besänftigend über den Kopf. „Wenn es richtig pläddert, dann wollen sie nie raus“, erklärt er. Verständlich. Bei gutem Wetter geben sie dann aber ebenfalls lautstark zu verstehen, dass sie nicht den ganzen Tag im Stall stehen möchten. Und dass sie das auch nicht müssen, unterscheidet den kleinen Naturhof von konventionellen Landwirtschaftsbetrieben. Ursprünglich haben er und Bärbel Vößing den Hof mit dem Ziel übernommen, eine tiergerechte Milchviehhaltung aufzubauen. Nun aber steht fest: Das wird nicht klappen. Doch aufgeben kommt für sie auch nicht infrage…
Dafür, das zeigt sich beim Rundgang durch die Ställe, ist ihnen die Arbeit mit den Tieren viel zu sehr ans Herz gewachsen. Da wird „Ute mit der süßen Schnute“ begrüßt und „Kasi“ gibt noch schnell einen nassen Schmatzer. „Tiere war schon immer ein großes Thema für uns“, erzählt Bärbel Vößing. Sonst hätten sie damals, vor vier Jahren, auch sicher nicht den Schritt gewagt. Er, als gelernter Koch, sie als ausgebildete Sekretärin. Mit zehn Tieren sind sie gestartet, mit 20 Milchkühen sollte der Betrieb richtig laufen. „Wir stehen kurz davor, das zu erreichen“, sagt Dirk Becker. Doch nun hat ihnen das Veterinäramt einen Strich durch die Rechnung gemacht: Die Ställe entsprechen nicht mehr den neusten Standards und müssten aufwendig modernisiert werden. Rund 300.000 Euro würde das kosten, viel zu viel für sie.
300 Jahre alter Bauernhof
Deshalb haben die beiden, wenn auch schweren Herzens, die Entscheidung getroffen, dass sie umschwenken müssen. Nach 300 Jahren Milchviehbetrieb, so alt ist der Hof, ist nun Schluss. Naja, zumindest mit den Milchkühen. „Einige versuchen wir zu behalten, um mit ihnen eine Mutterkuhhaltung aufzubauen“, erklärt Bärbel Vößing. Statt auf die Milch setzen sie ab kommendem Jahr also aufs Fleisch. Aber auch dafür müssen sie umbauen, müssen viel Zeit und Geld investieren. Denn, das sagt Dirk Becker: „Wir wollen weg von der Anbindehaltung.“ Was das genau bedeutet, kann er direkt mal zeigen. Dazu geht’s nach hinten, zu einem geräumigen Laufstall, in dem eine ganz schön stattliche Kuh steht. „Das ist Anja“, stellt er sie vor, „eine Mutter- und Ammenkuh.“
Anja hat so viel Milch, dass sie nicht nur ihr eigenes Kind, sondern noch zwei weitere Kälber versorgen kann. Die drei haben es sich übrigens gerade hinten im Stroh gemütlich gemacht. Und so viel Platz wie die vier Tiere sollen irgendwann auch alle anderen Kühe im Stall haben. „Die Natur kriegt ihren freien Lauf“, hält Dirk Becker fest. Auch, wenn das nicht gerade kostengünstig ist. Schon beim aktuellen Milchviehbetrieb geht ihnen jeden Tag 20 Prozent Milch verloren, allein weil Helga & Co. regelmäßig auf die Weide dürfen. Ähnlich wird es bei der Fleischproduktion laufen. „Das ist wie beim Menschen im Homeoffice“, sagt er, „wenn der sich nicht bewegt und nur Gummibärchen isst, setzt er natürlich auch schneller an, als wenn er nur im Außendienst unterwegs wäre.“
Spendenaktion gestartet
Dass Anja schon jetzt eine Mutter- und keine Milchkuh mehr ist, also die Landwirte sie nicht mehr melken, kostet sie im Monat 300 Euro. Leisten können sie sich das nur, weil jemand die Patenschaft für Anja übernommen hat. Um auch den kostenintensiven Umbau finanzieren zu können, haben die beiden zudem eine Spendenaktion gestartet. Denn ja, sie wollen ihren Naturhof unbedingt halten, wollen allen Interessierten zeigen, woher denn eigentlich die Milch oder das Fleisch kommt und wie tiergerechte Haltung aussieht. „Für mich ist das hier ein Begegnungsort“, so Bärbel Vößing. „Und wenn wir das Bewusstsein nur bei einigen ändern können, haben wir schon viel erreicht.“ Deshalb öffnen sie weiterhin ihre Türen, erklären all das, was sie selbst erst – manchmal auf schmerzhafte Weise – lernen mussten…
Dazu geht’s einmal zu der „Bohrmaschinenabteilung“, wie Dirk Becker den Stall der Kälber „Bosch“ und „Makita“ liebevoll nennt. Gerade einmal vier Wochen sind die beiden alt und eigentlich sehen sie doch ganz harmlos, ja eigentlich sogar ziemlich süß aus? „Das sind unsere gefährlichsten Tiere“, sagt er, „wenn die ihre dollen fünf Minuten haben, ist Klitschko nix dagegen.“ Wie hart so eine Hufe sein kann, weiß er aus Erfahrung… Und über die Jahre hat er noch andere, verblüffende Dinge gelernt. Dass Kühe beispielsweise kräftig pusten, wenn ihre Kälber mal wieder Blödsinn treiben. „Habe ich ausprobiert, funktioniert bei mir nicht.“ Dafür aber hat er sich etwas anderes von den Kühen abgeguckt, das er im Notfall einsetzt: „Wenn die Kälber weitermachen, gibt’s von den Müttern einen kleinen Tritt vor die Hufe.“
Aus dem Leben einer Kuh
Eine weitere, faszinierende Erkenntnis: „Kühe haben beste Freundinnen und andere, die sie überhaupt nicht mögen“, sagt Dirk Becker. Um kleine und große Besucherinnen und Besucher an dem spannenden, mitunter auch kuriosen Leben der Kühe teilhaben zu lassen, möchten die beiden eine „Kaffeefahrt zu den Kühen“ organisieren. Mit dem Planwagen geht’s dann raus auf die Weide, um in aller Ruhe die Tiere zu beobachten können. Quasi eine Safari am Niederrhein. „Genug Ideen haben wir“, erklärt Bärbel Vößing und lacht. Aber so langsam haben die beiden auch genug gequatscht, wie ihnen Helga und ihre Freundinnen muhend mitteilen. Deshalb dürfen die Kühe jetzt endlich auch raus auf die Weide – das schöne Wetter genießen.
>>> Naturhof in Wesel
Bärbel Vößing und Dirk Becker bieten immer freitags Führungen über ihren Naturhof, Zu den vier Winden 10 in Wesel, an. Wer anschließend noch beim Melken zuschauen möchte, ist herzlich dazu eingeladen. Kinder unter drei Jahren können kostenlos daran teilnehmen, alle anderen bezahlen fünf Euro. Eine Anmeldung ist nötig: 0173/1940668.
Weitere Informationen zum Naturhof und der Spendenaktion sind auf der Homepage zu finden: www.naturhof-wesel.business.site