Krefeld. Jährlich landen Arzneimittel im Wert von über fünf Milliarden Euro in der Tonne. Zwei Krefelder verwenden den Pharmamüll, um Kunst zu kreieren.
Die Menschen stehen auf der Straße, wirken verloren zwischen den Hochhäusern und inmitten der kalten Anonymität der Großstadt. Doch die „Pharma-City“, so ihr Name, besteht nicht etwa aus Betonklötzen, sondern aus Tablettenblistern, und die Personen sind auch keine echten Menschen, sondern winzige Figuren. Die beeindruckende und doch auch ein wenig erdrückende Welt hat der Kardiologe Dr. Dorian Recker erschaffen, fotografiert hat sie der Designer Andreas Willems. Zusammen sind sie DRAW, ein ungewöhnliches Duo, das ungewöhnliche Kunst kreiert. Die wichtigste Zutat dabei: Pharmamüll.
Denn damit hat der Arzt aus Krefeld, aber vor allem auch seine Frau, die Apothekerin ist, tagtäglich zu tun. Einer der Gründe: Für Pharmaindustrie und Krankenkassen lohnen sich die Großpackungen, auch wenn Patientinnen und Patienten weniger Tabletten reichen würden. „Und Packungen, die einmal angebrochen sind, dürfen aus Sicherheitsgründen nicht weiterverkauft werden“, erklärt Recker. Hochwertige und eigentlich noch haltbare Medikamente landen so im Müll – und das säckeweise. Bei Arzneimittelkosten von jährlich über 40 Milliarden Euro wird der Anteil an weggeworfenen Arzneimittel auf über fünf Milliarden Euro geschätzt. Eine unvorstellbare Menge, über die sich die wenigsten Gedanken machen.
Wertschätzung für die Medizin
Um das zu ändern, hat sich Recker im Jahr 2019 einige Blister geschnappt und „was daraus gebastelt“, wie er sagt. Die Pharma-City beispielsweise, aber auch den Medical-Mystery-Park, der aus kunterbunten Blumen und futuristischen Bäumen besteht. Gedankenlos, ja fast naiv spazieren die Leute durch ihn hindurch ohne zu bemerken, wo sie sich eigentlich gerade befinden. Und auch der Betrachter oder die Betrachterin braucht einen Moment, um zu erkennen, dass es sich bei den Blumen und Bäume um unterschiedliche Pillen handelt. Rot, gelb, blau, gestreift, rund oder länglich… Echte Flower-Power eben.
Und ja, die Diskrepanz zwischen Fröhlichkeit und Ernsthaftigkeit ist durchaus gewollt, wie Recker betont. „So wollen wir dem Betrachter den ganzen Themenbereich näher bringen.“ Das beinhaltet auch die Tatsache, dass es von der Idee eines Wirkstoffes bis zur Produktion eines Medikaments jahrelange Forschung und viel Geld braucht. Wer allerdings für eine Packung nur fünf oder zehn Euro in der Apotheke zuzahlen muss, ist sich dem kaum bewusst. „Es geht um die Wertschätzung“, sagt er. „Schließlich hat die Pharmazie wesentlich zu unserer heutigen hohen Lebenserwartung beigetragen.“
Der Wanderer über dem Blistermeer
Auch Andreas Willems hatte vor dem Kunstprojekt mit dem Thema „nix am Hut“, wie er sagt. Doch als Dr. Dorian Recker mit der Idee, Miniaturwelten aus Tablettenblistern & Co. zu schaffen, auf ihn zukam, hat es ihn direkt gepackt. Denn steht das Problem Pharmamüll nicht auch symbolisch für viele andere Probleme unserer Konsumgesellschaft? „Es werden täglich tonnenweise Lebensmittel weggeworfen“, sagt er. „Während die Tafel immer wieder verzweifelt auf der Suche nach Lebensmittelspenden ist.“ Ein respektvollerer Umgang mit Produkten, ein stärkes Bewusstsein für deren Wert, das sei wünschenswert.
Allerdings möchten die beiden dafür nicht den berühmten Zeigefinger erheben, sondern ruhig auch mal mit etwas Humor an die Sache herangehen. Wenn beispielsweise Caspar David Friedrichs Wanderer nicht über dem Nebel-, sondern über dem Blistermeer steht, dann darf durchaus geschmunzelt werden. Ebenso, wenn ein Surfer über die Wellen reitet, die sich erst auf dem zweiten Blick als OP-Maske entpuppen. Denn klar, auch Corona hat sich auf ihre Arbeit ausgewirkt – mal spiegelt es sich in den Materialien wider, mal in der Thematik. Spritzen werden zu Impfstationen, Blister zu Gräbern.
Ausstellung im Hotel Mercure in Krefeld
Insgesamt 17 großformatige Bilder hat das Duo DRAW mittlerweile produziert, 14 von ihnen sind aktuell im Hotel Mercure in Krefeld ausgestellt. Darunter auch eines, das sich stilistisch deutlich von den anderen abhebt. „One More Year“ zeigt die Jahresmedikation eines 78-jährigen Patienten, also Tabletten für 365 Tage, abgefüllt in 52 Wochendosierern. Jedes Rechteck wiederholt sich und wiederholt sich, wird erst in der Summe zum Gesamtkunstwerk, das durch seine knallige Farbigkeit an Pop-Art erinnert. Die Arbeit ist bereits verkauft und wie bei jedem ihrer Werke wurde dabei ein Drittel des Erlöses gespendet.
Aktuell arbeiten die beiden bereits am 18. Bild, an der „Mega-Pille“, wie sie es nennen, einer Pille, die gegen alles wirkt: Krankheiten, aber auch Krieg, Umweltverschmutzungen. Aber kann es die wirklich geben? Oder macht es sich der Mensch damit zu einfach, schiebt die Verantwortung dadurch nur von sich weg? Darüber, das sagen die Künstler, dürfen sich die Betrachterinnen und Betrachter, ihre ganz eigenen Gedanken machen.
>>> Kunst aus Pharmamüll
Die Ausstellung „Kunst aus Pharmamüll“ im Mercure Hotel, Elfrather Mühle in Krefeld, wurde verlängert. Weitere Ausstellungen sind bereits geplant.
Auf der Homepage www.awi-design.de sind zudem alle Werke samt Beschreibungen und Hintergrundinformationen zu finden.