Kevelaer. Seit zwei Jahren steht in Kevelaer das Gradierwerk. Das Einatmen der Sole lindert viele Beschwerden – nicht nur die von Corona-Erkrankten.
Einatmen, ausatmen. Dabei ruhig die Augen schließen, dem sanften Tröpfeln lauschen und der salzigen Meeresluft nachspüren. Wobei… Meer? In Kevelaer? Na ja, fast. Manchmal braucht es nur wenige Atemzüge, um vom Niederrhein an die Nordsee zu reisen. Zumindest gedanklich. Seit zwei Jahren pilgern Gäste von nah und fern zum Gradierwerk im Solegarten der Wallfahrtsstadt, um hier mal so richtig durchzuatmen. Fürs Urlaubsgefühl, aber vor allem fürs eigene Wohlbefinden. Der Gesundheitstourismus boomt, nicht erst seit der Pandemie. Deshalb reicht es der Stadt Kevelaer längst nicht mehr, „nur“ staatlich anerkannter Erholungsort zu sein, sie will mehr, will die Auszeichnung als „Kurort mit Heilquellenbetrieb“. Der Antrag ist gestellt, „534 Seiten lang“, erklärt Hans-Josef Thönnissen, der als Geschäftsführer der Stadtwerke Kevelaer für den Solegarten verantwortlich ist. Er gibt sich zuversichtlich, denn das wohl Wichtigste ist vorhanden: das Heilwasser. Und das lässt sich nicht nur einatmen…
Doch mit dem Heilwasser ist das so eine Sache. Der Geologe Dr. Josef Klostermann führte zwar in den 1990ern eine Bohrung durch, um die „jodhaltige Thermalsole“, so der Fachbegriff, zu fördern, doch die Ursprungsidee eines „Balnearischen Kur- und Erholungszentrums“ des Stadtdirektors Heinz Paal wurde bald wieder verworfen. Bis die Bezirksregierung Arnsberg, die verantwortlich ist für die Abteilung Bergbau in NRW, ein Machtwort sprach: Einfach zu bohren, ohne den Bodenschatz zu nutzen, das geht nicht! Also musste endlich ein Plan her. Das mineralhaltige Wasser als Getränk anzubieten sei zwar sinnvoll, „aber wir brauchten als Startpunkt etwas Sichtbares“, betont Thönnissen. Und so steht nun eben, unübersehbar, eine feuchte Reisigwand inmitten des grünen Solegartens. Wobei die Bezeichnung „Wand“ es nicht so recht trifft, denn die Architektur unterscheidet sich deutlich von der anderer Gradierwerke. Es geht einmal ums runde Bauwerk herum, das Plätschern des Solewassers im Ohr, den Geruch der Salzluft in der Nase.
Kevelaerer Gradierwerk sieht aus wie eine Jakobsmuschel
„Der Architekt hat sich vorab intensiv in Kevelaer umgeguckt“, erklärt Thönnissen. Und dabei ist er in der Wallfahrtsstadt natürlich auf den Jakobsweg gestoßen, der übrigens eigens für den Solegarten umgelegt wurde. Das Symbol des Pilgerwegs, die Jakobsmuschel, nahm er schließlich in seine Planung auf, entwarf so ein muschelförmiges Gradierwerk, das nicht nur schick anzusehen ist. „Durch die Rundungen verteilen sich die salzhaltigen Aerosole je nach Windrichtung überall in der Luft“, betont er. Noch einmal tief einatmen. Und ausatmen. Ja, die steife Nordseebrise, die ja eigentlich eine sanfte Niederrheinbrise ist, tut gut. Aber wieso eigentlich? Das kann am besten Dr. Elke Kleuren-Schryvers erklären, denn sie betreut den medizinischen Part der Kurort-Entwicklung: „Es ist wissenschaftlich belegt, dass das Inhalieren von Sole positive Effekte hat.“ Sole wirkt entzündungshemmend, abschwellend, es befreit die Atemwege von Fremdkörpern und lockert zähen Schleim.
„Durch Covid hat eine Renaissance der Inhalationstherapie stattgefunden“, so Kleuren-Schryvers. Auch bei Long-Covid-Erkrankten kann, wenn sie weiterhin Atemwegsbeschwerden haben, das Einatmen der Sole gut tun. Ebenso bei Menschen mit chronischen Atemwegserkrankungen wie Asthma oder COPD. Allerdings, das ist ihr wichtig zu betonen: „Ein Gradierwerk ist kein Mekka der Wunderheilung. Aber das Inhalieren von Sole kann zumindest die Beschwerden lindern.“ Mindestens zehn Minuten braucht es, bis eine therapeutische Wirkung einsetzt. Wie gut, dass ums Gradierwerk herum mehrere Bänke stehen, auf denen es sich entspannt ein- und ausatmen lässt. Übrigens, die Muschel aus Schwarzdornreisig und Lärchenholz ist auch begehbar! Und im Inneren verstärkt sich der Effekt, weil sich die salzhaltigen Aerosole auf kleinerem Raum konzentrieren. Ab Herbst entsteht zudem eine Halle zur „Intensiv-Soleverneblung“, in der Gäste noch intensiver die salzhaltige Luft einatmen können.
Vier Vitalwanderwege in Kevelaer
Doch um „Kurort mit Heilquellenbetrieb“ zu werden, braucht es mehr als ein Gradierwerk und einen Solegarten. Die lufthygienischen Gutachten haben bereits „sehr gute Ergebnisse“ erzielt, so Thönissen. Darüber hinaus hat das Stadtmarketing unter Leitung von Verena Rohde viele Angebote erarbeitet – die vier Vitalwanderwege beispielsweise, die nahe des Solegartens starten. Und dann ist da noch der Trinkbrunnen, der im Info-Häuschen bereits installiert ist und aus dem es bald endlich auch plätschern soll. Weil das Heilwasser mit einem Salzgehalt von 2,3 Prozent aus der Quelle kommt, muss es zunächst verdünnt werden, damit Besucherinnen und Besucher es trinken können. Am Brunnen können sie dann wählen aus 0,9 Prozent, 0,5 Prozent oder 0,1 Prozent Salzgehalt. Und was bringt’s? „Die Trinkkur kann beispielsweise bei einer Übersäuerung des Magens positive Einflüsse haben“, sagt Kleuren-Schryvers. Aber es geht nicht nur um medizinische Aspekte, sondern auch um kleine Ritualisierungsmomente.
Bewusst trinken, schlucken, schmecken – „das passt alles ins Konzept der Achtsamkeit“, so die Expertin. Ebenso wie bewusst zu atmen. Und das ist mitunter gar nicht so leicht! Deshalb geht’s nun zum Atemweg, der aus zwölf Stationen mit verschiedenen Übungen besteht. Dort heißt es unter anderem: Arme weit ausbreiten, nach hinten und nach vorne führen. Und dabei natürlich das Wichtigste nicht vergessen: tief ein- und ausatmen!
>>> Hätten Sie’s gewusst?
Das Verb „gradieren“ bedeutet, „einen Stoff in einem Medium zu konzentrieren“. Im Gradierwerk wird der Salzgehalt im Wasser erhöht, indem Sole durch das Reisig hindurchgeleitet wird.
Dabei verdunstet auf natürliche Weise das Wasser, das sich in Form von salzhaltigen Aerosolen positiv auf die Atmung auswirkt.
Im Juli 2019 ist das Gradierwerk mit 3 Prozent Salzgehalt erstmals in Betrieb genommen worden. Ab September 2019 wurde der Salzgehalt auf 15 Prozent hochgradiert.