Aus den Niederlanden. Die Niederlande haben alle Coronaregeln abgeschafft. Risikogruppen sehen sich großer Gefahr ausgesetzt – und fühlen sich von Regierung vergessen.

Während mehrere Hunderte Menschen ohne Coronatest wieder zusammen auf Festivals tanzen können, sitzen andere weiter abgeschottet zu Hause. Während Massen ohne „mondkapjes“ in Utrecht oder Amsterdam Centraal am Bahnsteig warten, kaufen andere, hinter einem Mundschutz versteckt, einen frischen Satz FFP2-Masken. Der lang ersehnte „Freedom Day“ ist für viele Menschen aus Risikogruppen keine Befreiung. Im Gegenteil. Dass am Mittwoch auch die letzten Coronamaßnahmen in den Niederlanden gefallen sind, ist für diese Minderheit Grund zur Sorge – und eine politische Enttäuschung.

„Man fühlt sich als Bürger zweiter Klasse“, sagt Sandra Toorians. Die 48-Jährige aus Tilburg hat eine Bauchspeicheldrüsen-Transplantation hinter sich. Und nach vier Impfungen noch keinerlei Antikörper gegen das Virus aufgebaut. Die milden, aber wild grassierenden Covid-Varianten – alles andere als ungefährlich für die Niederländerin. „Für mich wird es immer schlimmer“, beschreibt sie. „Corona ist nun überall. Ich begreife es einfach nicht, dass bei so hohen Infektionszahlen keine Maßnahmen mehr gelten“.

Aktuell sinkt die Sieben-Tage-Inzidenz, sie liegt aber laut Johns-Hopkins-universität immer noch bei 1.820. Sandra Toorians ist nicht die Einzige, die sich angesichts der Lage von ihrer Regierung im Stich gelassen fühlt. Zusammen mit anderen „kwetsbaren“ – also Menschen aus Risikogruppen – engagiert sie sich bei „Vergeet ons niet, Ernst“, zu Deutsch „Vergiss uns nicht, Ernst“, eine Anspielung an den Namen des niederländischen Gesundheitsministers, Ernst Kuipers.

Niederlande: Risikogruppen kritisieren Lockerungen

Die Gruppe stellt klar: Zurück in den harten Lockdown will sie die Gesellschaft nicht schicken – aber mehr Verständnis und Unterstützung für „kwetsbare“. Das hat sie in einem Brandbrief an das niederländische Gesundheitsministerium eingefordert – etwa durch kostenlose FFP2-Masken, Mundschutzpflicht in Krankenhäusern oder bestimmte Einkaufsmöglichkeiten für chronisch Kranke. Bisher vergebens.

Auf Nachfrage dieser Redaktion betont das niederländische Gesundheitsministerium zwar, dass „der Schutz der Gesundheit von Risikogruppen“ noch immer „höchste Priorität“ für die Regierung habe. Gleichzeitig geht aus der Antwort hervor, dass die Regierung die Vorschläge der Aktionsgruppe nicht umsetzen wird, sondern weiter bei Empfehlungen bleibt.

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„Es war kein Schock“, sagt Valerie van de Flier aus Amsterdam, Resignation in ihrer Stimme, über den Abschied von allen Coronaregeln. „Wir wussten seit Beginn der Pandemie, dass die niederländische Regierung nichts tut, um sich um die Risikogruppen zu kümmern.“ Es sei aber „extrem enttäuschend“, dass die Regierung sie nun „praktisch für vogelfrei“ erklärt habe. „Sie haben sich entschieden, uns uns selbst zu überlassen.“

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Van de Fliers achtjährige Tochter sei nun seit zwei Jahren nicht mehr zur Schule gegangen. Die Einrichtung habe sich kulant gezeigt, eigentlich gilt aber auch in den Niederlanden eine Schulpflicht. Doch langsam gehe es für ihre Tochter wieder zurück, mit Sicherheitsregeln, die die Klasse freiwillig mittrage. „Sonst könnte sie ja nie wieder in die Schule.“

Der Schritt zu mehr Normalität erfolgt aber im Wissen, dass es für die Mutter gefährlicher wird. „Das schlimme an der Situation ist – es gibt keine gute Entscheidung“, führt die 42-Jährige aus, der eine Niere transplantiert wurde und die nur wenig Antikörper durch die Impfungen aufgebaut hat. „Zuhause sitzen ist schrecklich. Aber das Risiko in Kauf nehmen, dass ich schwer an Corona erkranke oder sterbe, ist auch keine Option.“ Ihre Tochter habe in der ersten Coronawelle bereits ihren Opa verlieren müssen. „Sie weiß, was das bedeutet.“

Keine Möglichkeit in den Niederlanden: Impfung für Tochter in NRW

Die Familie aus Amsterdam ließ die Achtjährige schon impfen, als es in den Niederlanden noch gar nicht möglich war. „Ich habe über 200 Mails an Ärzte in Nordrhein-Westfalen geschrieben“, sagt Valerie van de Flier. Es klappte in Köln, Ende November vergangenen Jahres. Warum die Belange der Risikogruppen mit der Zeit immer weniger beachtet worden seien, da haben die Mitglieder von „Vergeet ons niet, Ernst“ so ihre Theorie: Zwei Wahlen habe es im Verlauf der Pandemie gegeben. „Die Regierung hat Angst vor den Schreihälsen“, sagt der 27-jährige Nick Bootsman, der im Raum Rotterdam lebt.

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Und laut wurde vor allem nach dem Ende der Mundschutzpflicht geschrien. Übertrieben, findet Nick Bootsman. „Ich habe selbst Atemwegsbeschwerden und es klappt prima, jeden Tag eine Maske zu tragen.“ Er sei sogar schon von deutschen Touristen mit Mundschutz angesprochen worden, die sich wunderten, dass er als Niederländer tatsächlich Maske trage.

Niederlande: Wer am lautesten ruft, wird am ehesten gehört?

Die wegen ihrer chronischen Krankheit pensionierte Lehrerin Annelies Hilgersom habe sogar gehört, dass Risikogruppen fürs Maskentragen in niederländischen Supermärkten angepöbelt wurden. „Die Gesellschaft ist hartherzig. Dabei werden die Niederländer für ihre Offenheit und eigene Meinung gerühmt. Das bedeutet aber auch: Wer am lautesten ruft, wird am ehesten gehört.“

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Sowieso sei die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr schon lange nicht mehr richtig kontrolliert worden. „Wegen aggressiver Fahrgäste“, sagt Sandra Toorians. „Wir machen es genau falsch herum. Wir lassen dieses Verhalten einfach zu. Dabei müssten wir diejenigen angehen, die sich nicht an die Regeln halten.“

Corona-Pandemie: Abfinden mit der Gefahr

Sie verstehe nicht, dass die Regierung auf aggressive Forderungen eingehe. „Eine kleine Gruppe Schreihälse hat das ganze Land unter Kontrolle. Wir aber können nicht in Den Haag protestieren, weil es für uns nicht sicher ist.“ Viele chronisch Kranke würden nun darüber nachdenken, sich einfach zu infizieren – und wann der beste Zeitpunkt dafür sei.

Auch Sandra Toorians selbst könne nicht länger „in hundertprozentiger Isolation“ leben, halte das mental nicht mehr aus. „Ich habe akzeptiert, dass ich durch eine Infektion im Krankenhaus landen könnte. Und wenn ich sterbe, sterbe ich.“ Eigentlich seien solche Gedanken verrückt, verrückt auch das Land, in dem sie lebe. Doch weil sie nichts ändern könne, ihr Entschluss: „Ich lockere nun selbst.“ Auch wenn das nur ein Spaziergang mit Freundinnen auf Abstand an der frischen Luft bedeute.