Moers/ Duisburg. Ibrahim Yetim (SPD) erzählt, wie sein Vater als Gastarbeiter nach Deutschland kam - und welche Fehler der Politik sich nicht wiederholen dürfen.

Vor genau 60 Jahren schloss Deutschland ein Abkommen mit der Türkei, um potenzielle Arbeitnehmer anzuwerben. Daraufhin kamen rund 900.000 türkische Menschen nach Deutschland. Unter Ihnen auch die Eltern des SPD-Bundestagsabgeordneten Ibrahim Yetim aus Moers. „Für meine Familie stand dahinter der Traum, sich hier eine Basis erarbeiten zu können, mit der sie sich in der Heimat etwas aufbauen kann“, so der 56-Jährige.

Doch, wie in so vielen Gastarbeiterfamilien, wurde nichts aus dem Flug in die Heimat. Das Leben ging auch während der harten Arbeitstage weiter, Yetim und sein Bruder wurden geboren und die Kinder aus der Schule zu reißen, war keine Option. Dann kamen weitere Geschwister hinzu und aus geplanten fünf Jahren in Deutschland wurden fünf Jahrzehnte. „Für uns Kinder war der Bezug zur Heimat unserer Eltern gar nicht da. Dort herrschen völlig andere Umstände, das fängt schon bei der Sprache an“, so Yetim.

Ibrahim Yetim (vorn) mit Bruder, Mutter und dem Vater, der als Gastarbeiter nach Deutschland kam.
Ibrahim Yetim (vorn) mit Bruder, Mutter und dem Vater, der als Gastarbeiter nach Deutschland kam. © Ibrahim Yetim | Ibrahim Yetim

Sein Vater arbeitete zunächst auf der Zeche Lohberg in Dinslaken, später in der Papierfabrik Haindl in Duisburg-Walsum. Yetims Mutter war Putzfrau. Er selbst machte seinen Hauptschulabschluss und dann eine Ausbildung bei der Zeche. „Das war nicht unbedingt mein Traum. Aber wir von der zweiten Generation hatten es schwer, einen Job zu finden“, erinnert sich Yetim. In klassischen „weiße-Kragen-Jobs“ war Zweisprachigkeit noch nicht als Vorteil anerkannt, sondern eher ein Ausschlusskriterium.

Ähnlich ging es dem heutigen Politiker bei der Wohnungssuche. „Ich habe mich einmal bei einem Vermieter über eine freie Wohnung erkundigt. Das Gespräch lief gut, ich spreche ja gut deutsch. Dann wurde ich nach meinem Namen gefragt und musste ihn zweimal nennen. Daraufhin sagte der Mann, die Wohnung sei schon vermietet“, so der 56-Jährige. Yetim holte sein Abitur parallel zur Zechenarbeit nach, studierte und ging dann in die Politik.

Diskriminierung bis in die vierte Generation

Der Politiker bedauere es, dass seine Eltern, die zwei Drittel ihres Lebens in Deutschland verbracht haben, nie die Anerkennung bekamen, die er sich gewünscht hätte und stattdessen Diskriminierungen erfuhren. „Die Wertschätzung gibt es nur in Sonntagsreden. Meine Mutter hat hier vier wohlerzogene Kinder zur Welt gebracht, mein Vater für den wirtschaftlichen Erfolg des Landes hart gearbeitet“, sagt Yetim.

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Von Denise Ludwig(d.ludwig@nrz.de)

Diese fehlende Wertschätzung zeige sich bereits dadurch, dass man in Deutschland noch heute, fast vier Generationen später, von Gastarbeitern spricht. „Der Begriff war damals schon so falsch, wie heute. Bei einem Gast hat man die Assoziation, dass man ihn auch wieder verabschieden muss“, findet Yetim. Und diese Gedanken würden sich bis in die Gegenwart ziehen, bis in die Generation seiner Tochter: „Selbst diese Generation ist in der Gesellschaft noch nicht als Deutsche anerkannt. Was für Viele zählt, ist immer noch die Herkunft der Vorfahren.“

Ein Datenreport des Statistischen Bundesamts zeigt, das sich 2018 sechs Prozent der Personen mit Migrationshintergrund, sechs Prozent der Migrantennachkommen und sieben Prozent der Geflüchteten häufig im Alltag diskriminiert fühlten. Menschen mit türkischer Herkunft gaben am häufigsten an, solche Situationen schon oft erlebt zu haben (14 Prozent).

Laut der Antidiskriminierungsstelle stieg die Anzahl an Beratungsanfragen auch zuletzt stark an: Besonders die Anfragen zu Diskriminierungen aufgrund der ethnischen Herkunft oder aus rassistischen Gründen ist 2020 im Vergleich zum Vorjahr um fast 78 Prozent gestiegen, von 1176 Anfragen auf 2101. Wie viele dieser Beratungssuchenden türkischstämmig waren, lässt sich nicht sagen.

Im Wahlkampf beleidigt

Dabei sei es derart absurd, dass sogar Yetim selbst, der in Deutschland geboren wurde und politisch aktiv ist, noch Diskriminierungen erlebt. Der Politiker erinnert sich an seinen letzten Wahlkampf in Moers, als er Bürgerinnen und Bürger zum Wählen animieren wollte: „Da kam eine Frau zu mir und sagte. ‘wählen ist wichtig, sonst wird der Türke noch Bürgermeister’.“ Andere drohten ihm, sie wählen die AfD, wenn er es zum Bürgermeister schafft. Zu diesem Zeitpunkt war Yetim schon 10 Jahre lang Direktkandidat für die Stadt Moers. „Dieses Schubladendenken muss aufhören“, findet Yetim. Und das gehe nur mit verbesserter Integration - von beiden Seiten. „Was uns unterscheidet muss uns nicht trennen. Wenn alle das begreifen würden, hätten wir schon viel geschafft“, sagt der Politiker.

Ibrahim Yetim mit Frank-Walter Steinmeier, damals noch Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag, heute Bundespräsident.
Ibrahim Yetim mit Frank-Walter Steinmeier, damals noch Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag, heute Bundespräsident. © Ibrahim Yetim | Ibrahim Yetim

Für seine Familie hätte Ibrahim Yetim sich Integrationsprogramme gewünscht. Vor allem für seine Mutter, die Jahre später sagte, sie hätte gerne die Sprache besser gekonnt, einfach um zum Beispiel einkaufen zu gehen. Zwar gab es nachträgliche Kurse für Gastarbeiter und ihre Familien, allerdings kamen diese aus Yetims Sicht Jahre zu spät.

Vor allem aber dürfen die Fehler von damals nicht heute wiederholt werden, zum Beispiel wenn es um Geflüchtete geht. „Auch bei ihnen denken viele: die gehen wieder in die Heimat. Aber auch hier wird ein Großteil in Deutschland bleiben“, sagt Yetim.