An Rhein und Ruhr. Der VdK fordert die Anerkennung der Corona-Langzeitfolgen nach einer Infektion im Job als Berufskrankheit – nicht nur im Gesundheitsbereich.

Rund 3,6 Millionen Menschen in Deutschland gelten nach einer Covid-19 Erkrankung als genesen. „Doch etwa jeder achte bis zehnte von ihnen kämpft noch mit Langzeitfolgen, auch bekannt als Long Covid. Und das sind nicht nur Alte“, sagt der Sozialverband VdK in NRW, der gestern in Düsseldorf seine Forderungen an die Politik vor der Bundestagswahl vorgestellt hat. Etwa 170.000 Anfragen sind beim Spitzenverband der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen auf Anerkennung von Covid-19 als Berufskrankheit eingegangen.

Kurzatmigkeit bei leichten Anstrengungen, Konzentrationsmängel, chronische Erschöpfung sind oft die Symptome von Long Covid. Mitarbeiter im Gesundheitswesen haben gute Chancen, Long Covid als Berufskrankheit anerkannt zu bekommen. „Aber berufliche Tätigkeiten außerhalb des Gesundheitswesens und der Wohlfahrtspflege fallen bei Long-Covid-Erkrankungen nicht unter den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung“, kritisiert der Sozialverband. „Busfahrer, Bestatter, Verkäufer oder Handwerker, für die während der Pandemie kein Homeoffice möglich war, und die an ihren Arbeitsplätzen nicht durchgehend die Abstands- und Hygieneregeln einhalten können, waren aber einem erhöhten berufsbedingten Infektionsrisiko ausgesetzt“, sagt der VdK-Landesvorsitzende Horst Vöge. Trotzdem müssen diese Gruppen um eine Anerkennung kämpfen und nachweisen, „dass die Infektion durch einen konkreten beruflichen Einzelkontakt erfolgt ist. Das ist aber schwierig bis unmöglich“, sagt Horst Vöge.

Anspruch auf Krankengeld?

Darüber hinaus seien viele weitere sozialrechtliche Fragen ungeklärt: Haben austherapierte, offiziell als genesen geltende Menschen, die aber weiter an den Folgen einer Covid-Erkrankung leiden, Anspruch auf Krankengeld, auf medizinische oder berufliche Rehabilitation, auf Erwerbsminderungsrente? Auch die medizinische Forschung gebe bislang noch keine ausreichenden Antworten auf die Leistungsfähigkeit von Menschen mit Long Covid. Der VdK fordert klare Richtlinien für die Begutachtung, „damit Long-Covid-Erkrankte nicht durch die Maschen des sozialversicherungsrechtlichen Leistungsnetzes fallen.“ Bislang sei die Pandemie in der Sozialgesetzgebung noch nicht angekommen.

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„Sozialer Aufschwung jetzt“ – den fordert der Sozialverband VdK, der gestern seine Kampagne im Vorfeld der Bundestagswahl in Düsseldorf vorgestellt hat. „Wir sind politisch unabhängig, haben aber Forderungen an die Politik“, erklärte der Landesvorsitzende Horst Vöge. So müsse der Sozialstaat dringend reformiert werden. Und das in vielen Bereichen. „Corona hat die Probleme in unserem Bundesland wie durch ein Brennglas aufgezeigt“, so Vöge. „Viele unserer über 380.000 Mitglieder waren verzweifelt, weil sie sich von ihrer mehr als knapp bemessenen Grundsicherung kaum noch Masken leisten und somit teilweise nicht einmal Einkaufen gehen konnten.“

VdK: Maßnahmen der Sozialschutzpakete reichen nicht

Ein vereinfachter Zugang zur Grundsicherung, der bis Ende 2021 verlängert wurde, Einmalzahlungen wegen Corona-Mehrkosten oder ein gemeinschaftliches Mittagessen für Kinder – die Maßnahmen der unter Corona von der Politik verabschiedeten Sozialschutz-Pakete I bis III begrüße der VdK NRW ausdrücklich. Aber: „Dies reicht aber nicht“, so Horst Vöge. Der Verband fordert in der Grundsicherung einen monatlichen Aufschlag von 100 Euro, solange die Pandemie anhält, um die Mehrkosten ansatzweise decken zu können.

Insbesondere im Ruhrgebiet litten die Menschen unter den sozialen Folgen der Pandemie. Dies will der VdK mit einer symbolischen „Tour der Armut“, die am 28. Juli startet, untermauern. „Da die A40 nicht umsonst als Armutsäquator gilt, wollen wir in den umliegenden Städten mit den verantwortlichen Politikern und Betroffenen ins Gespräch kommen.“

Stichwort: Pflege

„Gerade im Bereich der Pflege sehen wir nach dem Lockdown weiterhin mehr Schatten als Licht, weshalb wir uns ausdrücklich für eine Vollversicherung und mehr Unterstützung für Betroffene sowie ihre hoffnungslos überlasteten Angehörigen stark machen werden“, kündigte Horst Vöge an. Über 75 Prozent der Pflegebedürftigen – allein rund 420.000 in NRW – werden zu Hause versorgt. Einrichtungen der Tages- und Kurzzeitpflege bieten wegen Corona nur einen eingeschränkten Betrieb an, beim Wechsel osteuropäischer Betreuungskräfte entstehen Lücken, ambulante Pflegedienste arbeiten am Limit. Das bedeutet eine vollständige Überlastung für pflegende Angehörige. „Sie brauchen ein Sofort-Hilfe-Pakete zur Unterstützung bei Versorgungsnotfällen sowie eine Pflegezeit mit Lohnersatz für berufstätige pflegende Angehörige analog zum Elterngeld“, so Horst Vöge.

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Sorgen bereite eine Auswertung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK, demzufolge die Sterblichkeit in stationären Einrichtungen zu Hochzeiten des Virus um 20 bis 30 Prozent gestiegen ist. „Wir müssen Konzepte entwickeln, um die Bewohner wirksam vor Ansteckung zu schützen“ – auch für eine mögliche weitere Pandemie.

Stichwort: Verwaltung

Corona habe die gesellschaftlichen und staatlichen Schwächen in Bezug auf Entscheidungswege, Kommunikation, Gesundheitsversorgung und Digitalisierung offenbart. Es müsse für die Zukunft „ein unabhängiges Berater- und Entscheidungssystem“ aufgebaut werden, das in Pandemiezeiten regional und vor allem losgelöst von politischen Bestrebungen agieren kann. Auch dürfe eine handlungsfähige Verwaltung dürfte nicht mehr unter dem Etikett „Entbürokratisierung“ kaputtgespart werden.

Sozialer Klimaschutz

Ein weiteres Thema auch für den VdK ist der Klimaschutz. Untersuchungen zeigten, dass vor allem sozial schwache Menschen und ältere Menschen von den Folgen des Klimawandels betroffen sind. In sozial benachteiligten Stadtteilen gebe es meist weniger Grünflächen, viel Lärm und Abgase. Die Themen „Umweltgerechtigkeit“ und „sozialer Klimaschutz“ müssten einen stärkeren Eingang in die großen Umweltdebatten finden.

Familie und Beruf

Entlastet werden müssten auch vor allem Mütter, von denen nach wie vor eine große Zahl im Home-Office oder in Teilzeit arbeitet, um die Betreuung der Kinder sicherzustellen. Der VdK bringt eine Corona-Elternzeit oder ein Corona-Elterngeld auf die Agenda.

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Und auch Menschen mit Behinderung seien in besonderem Maße von der Pandemie betroffen – nicht nur, weil sie zu zur Risikogruppe gehören, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt. Der Anteil von schwerbehinderten Langzeitarbeitslosen in NRW ist seit Anfang 2020 von 240.000 (Februar 2020) auf fast 325.000 (Februar 2021) gestiegen.

Finanzierung Corona-Folgen

Der VdK sieht keine andere Möglichkeit, als den Schritt zur Neuverschuldung, um die Folgen der Corona-Pandemie sozial abzufedern. Gleichzeitig fordert er zur Bewältigung der finanziellen Folgen eine gerechte Lastenverteilung, zum Beispiel durch die Einführung einer Vermögensabgabe sowie einer Digital- und Finanztransaktionssteuer.

Mehr Infos zur Kampagne: www.vdk.de/btw21