Raesfeld. Raesfeld hat mehr zu bieten als nur das Schloss. Hier gibt’s das größte Stück Torte, den leckersten Korn und einen spannenden Gerichtsprozess.
Tiefblauer Himmel und saftiggrüne Felder so weit das Auge reicht – bis am Horizont der imposante Turm des Wasserschlosses auftaucht. Jetzt nur noch einen Parkplatz finden! Dafür am besten zur Hagenwiese fahren, denn im angrenzenden Naturparkhaus gibt’s kostenlose Rad- und Wanderkarten zum Mitnehmen. Vom gläsernen Gebäude aus führt ein verschlungener Weg bis zum Schloss, vor dem bereits Walter Großewilde auf uns wartet. Kaum jemand kennt die Gegend hier so gut wie er, der Natur-, Landschafts- und Schlossführer. Und das beweist der 74-Jährige auch direkt, indem er über den Innenhof läuft und nach oben zeigt. „Mit 58,5 Metern ist das der höchste Turm Westfalens“, erklärt er. „Ein Kunstgeschichtler hat ihn mal ,einen zu Stein gewordenen Trompetenstoß’ genannt.“
Damit beginnt die kleine Zeitreise ins 17. Jahrhundert, als Reichsgraf Alexander II. auf den alten Burgruinen das heutige Wasserschloss erbauen ließ. „Dort drüben ist der Sterndeuterturm“, sagt Großewilde und deutet auf den gegenüberliegenden Turm. „Alexander II. betrieb astrologische Studien und ließ sich ein nach Norden gerichtetes Fenster einbauen.“ Damit er nachts direkt auf den Nordstern blicken konnte. Mittlerweile ist das Schloss Eigentum der Handwerkerorganisation von NRW. Wo früher Hofrat und Hofmeister das Sagen hatten, wird heute gehämmert und gehobelt. Das Schloss hat aber auch seine romantischen Ecken, so können sich im Kaminzimmer Verliebte trauen lassen. „Vor Corona haben hier über 400 Hochzeiten im Jahr stattgefunden“, sagt der Schlossführer.
Das größte Stück Sahnetorte
Geheiratet wird an diesem Tag nicht, dafür geradelt. Und damit es sich gleich noch leichter in die Pedalen treten lässt, gibt’s zur Stärkung vorab selbstgebackenen Kuchen. „Bonhoff bietet leckere Sahnetorten an“, schwärmt Großewilde. „Ein größeres Stück Kuchen kriegen Sie nirgendwo.“ Die süßen Köstlichkeiten können Gäste draußen auf den Bänken verspeisen, um anschließend gemütlich durch die verwinkelten Gassen zu schlendern. Ein, zwei nette Läden für Kunsthandwerk gibt’s hier zwar. Aber, das betont der Experte auch direkt: „Shoppen ist in Raesfeld schwierig.“ Macht nichts, dafür ruft bereits die Natur. Und die lässt sich wunderbar mit dem Rad erkunden. Bei der Verleihstation am Schloss am besten im Voraus anrufen, dann steht der Tour durch den Tiergarten ganz sicher nichts im Wege.
Knapp sechs Kilometer lang ist der Rundweg durch den ehemaligen Renaissance-Garten, in dem einst exotische Tiere lebten. „Heute gibt’s hier Damwild“, weiß Großewilde. „Wenn Sie Glück haben und im Herbst hierher kommen, treffen Sie vielleicht einen Hirsch.“ Radfahrende sollten also immer daran denken, die Tore nach dem Durchfahren wieder hinter sich zu schließen. Wem die sechs Kilometer nicht reichen, kann anschließend noch weiter durch den Dämmerwald oder aber zum Raesfelder Ortskern fahren. Letzteres schlägt der Experte für diesen Tag vor. „Vom alten Dorf existiert nicht mehr viel, weil viel im Zweiten Weltkrieg zerbombt wurde.“ Ein Stopp an der St. Martin Kirche lohnt aber allemal. Denn davor zeigen bebilderte Schilder, wie es hier früher ausgesehen hat.
Kornbrennerei in siebter Generation
Doch es gibt noch mehr zu entdecken, verrät Großewilde. Und nimmt mit zu dem wohl spannendsten Teil des Tages. Gerade einmal vier Kilometer entfernt ist der Ortsteil Erle, gut erreichbar auch mit dem Rad. Schon von Weitem ist der hohe Kirchturm zu sehen, der einst ein echtes Politikum darstellte. „Die Kirche wurde im Zweiten Weltkrieg bombardiert und als die Erler für 350.000 Mark aus Eigenmitteln einen neuen Turm draufgesetzt haben, war der höher als der Kirchturm in Raesfeld“, erzählt der 74-Jährige. Sehr zum Ärger der Raesfelder. „Die waren neidisch auf die Erler.“ Vielleicht half damals ja schon der ein oder andere Schnaps, um den Ärger runterzuspülen. Den gibt’s auch heute noch in der Kornbrennerei Bröckenhoff, die mittlerweile in siebter Generation geführt wird.
„Wir brennen hier alles auf Kornbasis“, erklärt Daniela Böckenhoff und führt über den kleinen Innenhof bis zur Brennerei mit den großen Kesseln. „Korn ist typisch für die Region.“ Deshalb sind selbst die Liköre auf Kornbasis, darunter auch der Femetrunk. Genau das richtige Getränk für die nächste und letzte Station des Tages. Mit einem „Tschüskes“ noch im Ohr geht’s zu Fuß über die historische Kastanienallee bis zur über 1000 Jahre alten Femeiche. „Hier habe ich schon 80 bis 90 Leute zum Tode verurteilt“, sagt Großewilde mit einem Augenzwinkern. Seit zehn Jahren lässt er hier regelmäßig die mittelalterlichen Femegerichtsverhandlungen wieder aufleben. Dazu verwandelt er sich selbst in den Freigrafen zu Erle, seine Gäste werden zu Schöffen sowie Kläger und Beklagten.
Gerichtsprozess an der Femeiche
„Die Namen der Beklagten verrate ich jetzt aber nicht“, sagt Großewilde und lacht. Das würde ja die Spannung rausnehmen. Denn eines ist klar: Am Ende spricht der Freigraf jemanden schuldig… Und so geht’s am Ende mit noch etwas Adrenalin im Blut zurück über die weiten Felder, bis am Horizont der „zu Stein gewordenen Trompetenstoß“ und damit der Start- sowie Endpunkt des Nachmittags in Raesfeld auftaucht.
>>> Ein Nachmittag in Raesfeld
Corona hat viele Reisepläne für den Sommer durcheinander gewirbelt. Vielleicht bleibt aber gerade deshalb mehr Zeit, die eigene Heimat neu zu entdecken.
In unserer Serie „Ein Nachmittag in...“ stellen wir viele Orte in der Region vor, in die man immer schon mal fahren wollte. Mit praktischen Tipps für Sehenswürdigkeiten, Gastro und Geschäften.
In Raesfeld bietet Walter Großewilde verschiedene Touren an, darunter Schlossführungen oder auch die Femegerichtverhandlungen. Weitere Infos sind zu finden unter www.freigraf-erle.de