Erle. . Walter Großewilde hält Gericht - mit Schwert und dreifachgebundenem Weidenstrick. An einem wahrhaft magischen Ort: im Schatten der über 1000 Jahre alten Gerichtseiche in Erle, Gemeinde Raesfeld
Keine Bange. Der tut’s nicht. Walter Großewilde ist ein sehr sympathischer, liebenswerter und friedliebender Mensch. Der könnte nicht mal eine Fliege mit dem Schwert zermalmen. Und der dreifachgebundene Weidenstrick vor ihm – der ist nur Deko. Und doch, die Zeiten waren einmal andere hier an der uralten Gerichtseiche, der Femeiche zu Erle. Und die Amtsvorgänger von Walter Großewilde, die waren nicht zimperlich. Es waren eben raue Zeiten, damals, anno 1441. Da wurde Gericht gehalten und Recht gesprochen, exakt an diesem Ort, unter diesem Baum, und für die bösen Sünder gab’s nur zwei Möglichkeiten: Freispruch oder: Henken bis der Tod eintritt.
Walter Freigraf zu Erle nimmt Haltung ein: „Gott zum Gruße, Volk vom Niederrhein und angrenzenden Gemarkungen.“ Das allein schon flößt Respekt ein, der Dolch an seiner Seite und der doch tiefernste Blick lässt ahnen: „Wir haben heute wahrlich Schreckliches zu verhandeln.“
Die Halsgeige, die am Jägerzäunchen lehnt, ist zum Glück nur aus Styropor, der Dolch ist stumpf und Walter Großewilde ist Walter Großewilde und nur mal eben für uns in die mittelalterliche Rolle des Freigrafen geschlüpft. Wobei er das seit 2011 regelmäßig macht – seitdem ist der pensionierte Maschinenbauer u.a. ausgebildeter Naturparkführer und so eine Art zertifizierter Freigraf, also Richter am Femegericht, „am Freienstuhl zum Assenkamp zu Erle“, dessen Stuhlherr kein geringerer ist als der Ritter Johann von Raesfeld.
Sehr liebevoll haben die Erler (Gemeinde Raesfeld) ihren ungewöhnlichen Dorfmittelpunkt nahe der Pfarrkirche St. Silvester gestaltet und pflegen ihre Dorfälteste mit Inbrunst. Die Femeiche mag mehr als 1000 Jahre auf ihrem Buckel haben (siehe Text unten). Die Germanen haben hier vermutlich schon einen heiligen Versammlungsort gehabt. Und wenn man bedenkt, dass, als Karl der Große anno 800 in Rom zum Kaiser gekrönt wurde, die Erler wohl möglich da schon seit Generationen im Schatten der mächtigen Baumkrone zusammenkamen, dann macht das heute doch auch Gänsehaut.
Die bekommt man spätestens dann, wenn der Herr Freigraf loslegt. „Ich habe Klage bekommen, das Gott und dem Heiligen Deutschen Reiche eine große Missetat, Schmach und Hohn angetan worden ist“, und schon wandern die Blicke der Versammelten zu diesem Steinklotz, auf dem alles angerichtet ist: Schwert und Strick...
Walter Großewilde hat sich hineingelesen in die alte Zeit, kennt den „Sachsenspiegel“ (das hochmittelalterliche Rechtsbuch) und hat immer einen Mordsspaß, wenn er ahnungslose „Besucher“ zu Schöffen oder gar Bösewichten erklären darf. Aber keine Bange, niemand wird an den Pranger gestellt, niemand wird demütigend abgeführt – hier wird das Mittelalter in einer charmanten Version lebendig. Wobei, und das ist Walter Großewilde wichtig, so manches Vorurteil gegen das dunkle und grausame Mittelalter schon korrekturwürdig sei. Das Blutgericht, die Feme, in Erle war immerhin ein Schöffengericht. Mit einem Richter (Freiherr), mit Schöffen, mit Zeugenvernehmungen.
„Die Strafen waren drastisch, aber es wurde hier nicht gefoltert“, sagt der Freigraf zu Erle, der inzwischen Verstärkung bekommen hat. „Mein geliebtes Weib Uschi, Edle Dame vom Westerhuesweg, wird Euch, dem unwissenden Volk vom Niederrhein, die über 1000-jährige Eiche erklären.“ Und wenn das durch ist, wenn das „edle Weib“ den Touri-Part beendet hat, hebt der Freigraf wieder an. Einmal tief Luft holen, die Augen schließen und dann geht’s los: „Wir befinden uns im Jahre 1441 nach Christus unseres lieben Herrn Geburt. Zur Klage kommen die Ritter Gebrüder Diepenbrock und zwei ihrer Knechte – wegen Schöffenmordes.“
Die alte Femeiche in Erle gehört zu den ältesten Bäumen Deutschlands und ist inzwischen auch ein Naturdenkmal. Mehr als 1000 Jahre hat sie auf ihrem nun schon recht ausgehöhlten Buckel, manche Experten attestieren ihr sogar ein Alter von mehr als 1500 Jahren. Unter der Eiche wurden nachweislich bis zum 16. Jahrhundert Femegerichte abgehalten und Todesurteile gesprochen. Möglicherweise wurde dieser Ort bereits in germanischer Zeit als Tingplatz genutzt. Der Sage nach saß der Gott Odin selbst als Richter unter der Eiche und seine beiden Raben (Hugin und Munin) hockten in den Zweigen. Daher wohl auch der Name Ravenseiche (oder Rabenseiche).
Seit etwa 250 Jahren ist der Stamm hohl – bis auf drei Teile, die sich in etwa vier Metern Höhe wieder vereinen. Holzstangen stützen die gebrechliche Dame, die es immer noch im Sommer auf beachtliche acht Meter Kronendurchmesser bringt.
Viele Dönekes ranken sich um den einstmals mächtigen Baum. So sollen sich auf Veranlassung des Kronprinzen von Preußen, dem späteren König Friedrich Wilhelm IV., anno 1819 während eines Manövers 36 voll ausgerüstete Infanteristen in der Eiche aufgestellt haben – so groß war da schon die Höhlung.
Und in der Dorfchronik von Erle wird berichtet, dass, wenn der Bischof von Münster zur Firmung nach Erle kam, die Eiche festlich geschmückt und in ihr ein Umtrunk genommen wurde. Der Bischof Johann Georg Müller gar soll bei einer Firmung 1851 mit seinem Hofkaplan und neun weiteren Geistlichen an einem runden Tisch in der Eiche zwei Stunden lang bewirtet worden sein...
Schon 1892 wurden die ersten Holzstützen angebracht. Da wurde der Stammdurchmesser mit „vier bis fünf Metern in Brusthöhe“ angegeben.
Bis heute versuchen Baumsanierer alles, um das Naturdenkmal zu erhalten. Zur Erinnerung an die Femegerichte unter der Eiche stellte die Gemeinde im Sommer 2006 eine Granitskulptur auf, die an einen Gerichtstisch erinnert – samt Henkersseil und Schwert.