Düsseldorf/Kleve/Kranenburg. Zwölf Männer müssen sich in einem Hochsicherheitssaal in Düsseldorf verantworten. Kleine Fische oder die böse Zigaretten-Mafia aus Kranenburg?
Sieht so die organisierte Kriminalität aus? Die große, böse Zigarettenmafia? Zwölf Menschen schlurfen da an diesem Donnerstagmorgen mit halbstündiger Verspätung in den Hochsicherheitstrakt des Düsseldorfer Oberlandesgerichts – zusammengeholt aus zwölf verschiedenen Untersuchungsgefängnissen des Landes. Diese Truppe soll, das wirft ihnen die Staatsanwaltschaft Kleve vor, in organisierter Bandenkriminalität knapp 30 Millionen Zigaretten hergestellt und vertrieben haben, aus unverzolltem Tabak versteht sich.
So sei der deutsche Steuerzahler um rund sechs Millionen Euro betrogen worden – allein in dem einen Monat, in dem deutsche Fahnder auf Hinweise der polnischen Polizei eine angeranzte Fabrikhalle in Kranenburg überwachten. Insgesamt steht der Verdacht im Raum, dass sie rund dreieinhalb Jahre in Betrieb war.
Der Verteidiger malt ein völlig anderes Bild als die Staatsanwältin
Das allerdings wäre dann wirklich ein gut organisiertes, illegales Unternehmen gewesen und setzt eine umfangreiche Vertriebsstruktur voraus, zumal man offenbar mit den Marken Regal und Richmond für den britischen Markt produzierte. Also doch eine Mafia? Ein Vorwurf, den einer der Verteidiger zu einem ungewöhnlichen Mittel greifen lässt. Er nutzt das relativ neue Instrument eines Eröffnungsstatements. Und er malt ein völlig anderes Bild als die Staatsanwältin vor ihm.
Sein Mandant aus der Ukraine sei 59 Jahre alt, habe sein Leben lang hart gearbeitet, habe keine Vorstrafen und ist seit einem halben Jahr getrennt von seiner Familie „gebrochen durch ein halbes Jahr Untersuchungshaft.“ Er wendet sich ausdrücklich an die beiden Schöffen der fünfköpfigen großen Strafkammer des Landgerichts Kleve, will verhindern, dass sie sich vom Ambiente des turnhallenartigen Sitzungssaals beeindrucken lassen, der selbst aussieht wie eine Haftanstalt: Meterhohe Betonmauern, Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach, Sicherheitsschleusen vor dem Saal und meterhohe Glaswände im Saal, die die Zuschauer vom Gerichtssaal trennen.
„Das ist nicht, weil die Angeklagten hier so gefährlich wären oder es Anzeichen gäbe, dass es Befreiungsversuche geben könnte – das ist schlicht eine Sicherheitsmaßnahme wegen der Vielzahl der Angeklagten und wegen Corona.“ Ein Umstand, den auch die Klever Gerichtssprecherin bestätigt: Eine solche Hauptverhandlung des Landgerichts Kleve wäre am Niederrhein nicht durchführbar. Und die Angeklagten müssen auch nicht auf der nochmal extra verglasten Anklagebank sitzen. Sie werden von Justizbeamten ohne Einsatz von Handschellen zu ihren Verteidigern in den Saal geführt.
Viele leicht gebückt, manche korpulent, einige gut durchtrainiert – mit wildem Haarschopf, schütterem Resthaar oder angedeutetem Kahlschnitt. Zwischen verwunderten Kinderaugen und über den Schädel gezogener Kapuze bis zum sonst üblichen Versuch, sich mit Aktendeckeln oder Zeitung für allzu neugierigen Kameras zu schützen ist alles dabei.
LKWs beladen - sogar mit Arbeitsvertrag, irgendwo in Deutschland
Einer von ihnen, Andrei T, ist der einzige, der sich an diesem ersten Verhandlungstag bereits persönlich äußert und recht bereitwillig erzählt: 20 Jahre lang lebt der polnische Automechaniker in einer Kleinstatt nahe Brelsau, verheiratet, der Sohn wird im März volljährig. Er hat mit Autos gehandelt, war viel unterwegs. Ein Herr Swoboda habe ihm dann nicht nur einen Skoda, sondern auch einen Job angeboten: LKWs beladen, irgendwo in Deutschland. Und er solle noch zwei Helfer mitbringen.
Also machen sie sich auf den Weg tief in den Westen des Nachbarlandes, einen großen, angejahrten Peugeot mit niederländischem Kennzeichen bekommen sie gestellt. Klar war er zwischendurch auch in Holland, im Koffieshop, ja klar. Aber insgesamt habe er nur zwei Tage in Kranenburg gearbeitet.Es gibt sogar Arbeitsverträge für die Beschäftigten – wer der Aufzählung der Staatsanwaltschaft über den beschlagnahmten Maschinenpark lauscht, bekommt einen Eindruck von der Professionalität des Unternehmens.
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Die Arbeitsverträge tragen den Briefkopf einer belgischen Firma, die gewöhnlich mit Maschinen und Fabrikregalen handelt, 1600 Euro pro Monat soll es geben, bei maximal 52 Stunden Arbeit pro Woche. Er habe nur Kartons aus- und eingeladen. Nichts an der Beschriftung habe darauf hingedeutet, dass Zigaretten darin waren. Und selbst wenn: Mussten die Angeklagten, argumentiert ein Verteidiger, die ja immerhin mit offiziell anmutenden Arbeitsverträgen ausgestattet wurden, aus den Umständen schließen, dass sie einer illegalen Tätigkeit nachgingen? Wo doch auch in der Kleinstadt an der Grenze zu den Niederlanden offenbar niemand etwas ahnte und erst ein Tipp der polnischen Polizei die Essener Zollfahnder in Bewegung brachte.
Verdächtige Wohnbedingungen? Nicht schlimmer als in der Fleischindustrie
Dass die Staatsanwältin unter anderem mit der schlechten Unterbringung, mit Handyverbot und Ausgangssperren argumentiert, wischt er mit dem Hinweis auf die Zustände von Leiharbeitern in der Fleischindustrie beiseite. Komisch nur, dass sich in den beschlagnahmten Unterlagen unter anderem eine Zugangskarte für eine Vier-Sterne-Residenz im nahen Nimwegen findet.
Es wird noch viel Erklärungsbedarf geben an den folgenden, zunächst zehn Verhandlungstagen – und auch etliche weitere Angeklagte werden sich zumindest über ihre Anwälte äußern. Der Eindruck mag täuschen: Aber in dem Aquarium des Hochsicherheitsgerichtssaals scheinen vor allem kleine Fische zu schwimmen. Sollte es eine Mafia sein – der Pate sitzt nicht im Saal.