Kalkar-Hönnepel. Christoph Peters, Autor, weit gereist, seit Jahren Berliner, stammt aus Hönnepel. Er widmet seiner Heimat nun seinen “Dorfroman“. Ein Ortstermin.

Christoph Peters steht ein wenig ratlos vor dem rot verklinkerten, langgestreckten Einfamilienhaus. „Das ist das erste Mal, dass ich wieder hier stehe, nachdem meine Eltern das Haus verkauft haben“, sagt er. In diesem Haus war bis vor einem knappen Jahr noch das Jugendzimmer des heute 54-Jährigen. Seit rund 35 Jahren ist er weg vom Niederrhein, weg aus Hönnepel, lebt seit fast zwei Jahrzehnten in Berlin. „Und doch fühle ich mich in Berlin deutlich fremder, seit ich weiß, dass es diesen Ort so nicht mehr für mich gibt.“

Der Tag, an dem seine Eltern das Haus verkauften - das war auch der Tag, an dem sein „Dorfroman“ erschien und dem Buch für ihn noch eine weitere Dimension verlieh. Denn der Roman erzählt eine Kindheit, seine Kindheit. Wie es ist auf dem Land aufzuwachsen, „wo es eine Form von Langeweile gibt, die Stadtkinder nicht kennen." Hönnepel habe kaum 400 Einwohner gehabt. "Da war es schon schwierig, nachmittags drei oder vier Jungs zum Fußballspielen zusammenzukriegen.“

Nicht alle glaubten an die strahlende Zukunft

Doch das unscheinbare Dorf, es wurde just in Peters Kindheit zu einem der bekanntesten Orte der Republik. Als Peters Schulkind wurde, sollte hier der „Schnelle Brüter“ entstehen, die Zukunft der Kernenergie. Eine Zukunft, an die nicht alle glauben wollten. „Da drüben ist das Haus von Bauer Maas“, sagt Peters mit dem Rücken zur Kirche, an der Ecke, wo einst die Schule stand, an der seine Mutter unterrichtete.

Der groß gewachsene Landwirt war die Ikone des Widerstands, musste den Kirchenvorstand räumen auf Geheiß aus Münster. Führte Prozesse, ruinierte seine Finanzen und seine Gesundheit. Und ausgerechnet Peters Vater wurde der neue stellvertretende Vorsitzende des Kirchenvorstands, unter dem die Gemeinde schließlich das Land an die Brütergesellschaft verkaufte.

Christoph Peters vor dem
Christoph Peters vor dem "Schnellen Brüter" in Kalkar-Hönnepel. Die Entstehung des Kraftwerks fiel in seine Jugendzeit. © FFS | Kai Kitschenberg

Oberflächlich gesehen haben die Gegner gewonnen: Der Brüter wurde erst zur Ruine, dann zum Freizeitpark, machte zuletzt mal wieder Schlagzeilen als Tagungsort der AfD und ist nun Corona-Impfzentrum des Kreises Kleve. Der Glaube an die Kirche und der Glaube an die Neutralität der Wissenschaft, die die Brütertechnologie für sicher erklärten, der Zusammenhalt in Familien und Dorf, sie bekamen Risse, die das Gefüge des Zusammenlebens bis heute verändert haben.

14 Jahre brütete auch der Autor über der Idee

Gewiss nicht nur in Hönnepel. Aber hier verdichten sich die Veränderungen des Landlebens durch den Brüter in besonderer Weise zu einem Dorfroman. Als Peters 2006 für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung zum ersten Mal darüber einen Text schrieb, wurde ihm klar, dass dies auch ein Romanstoff wäre.

Doch beim Entwickeln der Romanstoffe ist Peters – pardon – eher der langsame Brüter: Jahrelang hat er recherchiert, seine Mutter hatte viele Dokumente der damaligen Zeit aufbewahrt, die Fakten, sie stimmen zu 90 Prozent, sagt Peters, sogar wann sein Vater, der Landmaschinentechniker sich mit welchem Mähdrescher auseinandersetzen musste, hat er ermittelt.

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Künstlerische Freiheit gestattet er sich nur bei Ereignissen, die sich nicht mehr rekonstruieren lassen – und bei Juliane, der Frau, die die erste Geliebte des Romanerzählers wird. Zusammengesetzt aus mehreren Frauen, „die ich zwischen 15 und 25 kannte“, sei sie und habe beim Erzählen ihre eigene Persönlichkeit und Körperlichkeit entwickelt.

Dass man nicht Bauer, Techniker oder Lehrer werden muss – und vielleicht auch nicht, wie Peters und sein Alter Ego im Roman – mit dem Schmetterlingsnetz auf den Spuren von Grzimek und Sielmann wandeln muss, das lernte Peters von seinem Kunstlehrer, dem Beuys-Förderer und Sammler Franz-Josef van der Grinten, Kunstlehrer am Katholischen Internat Gaesdonck.

"Die Verzweiflung war groß und die Kunst der Ausweg."

„Meine Probleme waren vielfältig, die Verzweiflung war groß und die Kunst der Ausweg“, sagt Peters heute über seine Internatszeit bei Goch, der er vor knapp zehn Jahren mit „Wir von Kahlenbeck“ ein literarisches Denkmal setzte. „Durch Franz-Josef van der Grinten bin ich überhaupt erst auf die Idee gekommen, dass es das für mich geben könnte: Ein künstlerisches Leben führen.“

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Die Folge: Flucht aus der Provinz, zum Zivildienst rheinaufwärts nach Mainz, dann zum Kunststudium noch weiter nach Karlsruhe – und schon dort, in einer nur 250 Jahre alten Stadt den tiefen, geschichtsträchtigen Boden des Niederrheins vermissend. So war er unter anderem mal Museumsschreiber im Kleve und vor ein paar Jahren noch habe er erwogen, den alten Gasthof im Ort zu kaufen, dort ein Privatmuseum für japanische Kunst zu eröffnen, Teezeremonie und Übernachtungsmöglichkeit inklusive. Nur: So viel wirft auch ein Schriftstellerleben mit reichlich Preisen und fast zwei Dutzend Büchern nicht ab. Und wer – wie er und seine Frau – in der literarischen Welt zuhause und verbunden ist, für den haben die Kontakte in der Hauptstadt hohen Wert. Der Place to be halt, aber – Heimat?

„Meine Tochter hat hier Fahrrad fahren gelernt“, erzählt er. Die 17-Jährige Berlinerin will jetzt nach Kanada und dann mal sehen – doch auch für sie stand im Garten des Hauses bis letzten Sommer noch ein vom Opa geschmiedetes Karussell Drei- bis viermal im Jahr kam Peters nach Hönnepel, zu den Eltern. Jetzt leben die Eltern, knapp an die 90, bei seiner Schwester in Leverkusen. Seniorengerecht.

Das nächste Buch spielt dann im politischen Berlin

Der Rückweg nach Hönnepel, der Rückweg zum Jugendzimmer, von dem aus er den Brüter immer im Blick hatte und seinen verfolgte: vom Zukunftsprojekt über die Bauruine zum Vergnügungspark, jüngst AfD-Parteitagsgelände und jetzt Impfzentrum. Der Blick ist ihm genommen und das Dorf seiner Kindheit gibt es jetzt so wenig wie das Hülckendonck seines Romans. Peters nächstes Buch spielt im politischen Berlin – „eine moderne Variante des Wolfgang-Koeppen-Romans ,Das Treibhaus‘“ schwebt ihm vor.

Weit weg von Hönnepel und von dem Melkstall, in dem der Ich-Erzähler des Buches auf der Suche nach Schmetterlingen die erste Liebe seines Lebens findet. Er ist nur ein paar hundert Meter vom Brüter entfernt, verschwindet fast in einer Baumgruppe und zerfällt, um ihn zu entdecken, muss man über den tiefen Boden stapfen. Am Ende klebt sie an unseren Sohlen, wie bei jedem Besuch, die fruchtbare niederrheinische Erde. Auch wenn die Orte unserer Kindheit und Jugend längst verlorene Plätze sind, so wie der verfallende Melkstall und die verbleichenden Graffiti der Proteste von einst.

Das Buch und die - im Moment geplanten - Lesungen:

Der „Dorfroman“, 412 Seiten, ist bei Luchterhand erschienen (22 Euro), die Premierenlesung in Hönnepel ist für den 1. März geplant. Weitere Termine: 2.März, Rees, Bürgerhaus, 20 Uhr, 3. März Xanten, Siegfriedmuseum, 4. März, Kempen, Kulturforum, 5. März Moers, 6. März Kleve, Zum Aussichtsturm, 20 Uhr, 28.4. April, Emmerich, Stadtbibliothek, unter www.christoph-peters.net wird die Liste aktualisiert und ergänzt.