Duisburg/Delitzsch. Willy Kröger erlebte am 17. Juni 1953 den Volksaufstand in der DDR mit. In Sachsen-Anhalt sah er, wie ein Mann bei den Demos erschossen wurde.
Wie ein Film laufe dieser Tag vor seinem inneren Auge immer wieder ab, sagt Willy Kröger, wenn er über den 17. Juni 1953 spricht. Den Volksaufstand in der DDR hat der damals 14-Jährige hautnah miterlebt. „Ich habe aus nächster Nähe gesehen wie ein Mann, der gar nichts mit den Demonstrationen zu tun hatte, erschossen wurde““, erzählt Kröger, der seit 1960 in Duisburg-Rheinhausen lebt. Er wurde am 25. März 1939 auch in NRW geboren, im westfälischen Herford, sein Vater starb, als seine Mutter noch mit ihm schwanger war. Sie heiratete erneut, einen Soldaten aus Ostdeutschland, mit dem sie 1942 nach Delitzsch, nördlich von Leipzig, zog.
„Ich bin ein Kriegskind und auch wenn ich damals noch klein war, kann ich mich sehr gut an die Endkämpfe erinnern“, so Kröger. Erst seien die Amerikaner nach Sachsen gekommen, dann die Russen. „Wir haben unter der sowjetischen Besatzung sehr gelitten, die Mangelwirtschaft war unser ständiger Begleiter.“ Nach der Gründung der DDR 1949 sei das nicht besser geworden. „Wir gehörten zu einer Baptistengemeinde und als gläubige Christen standen wir unter besonderer Beobachtung, eine schlimme Zeit“, beschreibt Kröger. Man habe im Gottesdienst immer gewusst, dass die Stasi mithöre.
„Wir waren total gegen das System“
Auch in der Schule sei es hochpolitisch zugegangen. „Jeden Tag Fahnenappell, dazu Unterricht in Gesellschafts- und Sozialkunde, wo wir alles über den sozialistischen Staat lernten.“ Dadurch sei man als Kind und Jugendlicher automatisch politisch interessiert gewesen. Kröger trat aber nie der FDJ bei, auch keinem anderen kommunistischen Verband. „Da meine Mutter und ich aus dem Westen kamen, waren wir total gegen das System“, sagt der 81-Jährige. Zumal Mangelwirtschaft und die Enteignung der landwirtschaftlichen Betriebe sich täglich bemerkbar machten. „Es gab eigentlich nie wirklich genug zum Essen, bis in die 60er-Jahre Lebensmittelkarten.“
Das seien ja auch teilweise die Gründe für den Aufstand am 17. Juni 1953 gewesen. Den erlebte der damals 14-Jährige, der zu diesem Zeitpunkt seinen Schulabschluss machte und Prüfungswoche hatte, im nahe Delitzsch gelegenen Bitterfeld, das in Sachsen-Anhalt liegt. „Ich hatte an diesem Tag keine Prüfung und sollte für meinen Stiefvater etwas erledigen, kam dabei am Bahnhof vorbei, wo sich viele Arbeiter nach Schichtende versammelt hatten“, erzählt Kröger. Im Bitterfelder Braunkohlewerk, dem größten Arbeitgeber der Region, arbeiteten damals 18.000 Beschäftigte, rund um das Braunkohlerevier sammelte sich viel Industrie an. Zum Ende der DDR bekam die Stadt wegen der maroden Ausstattung der Unternehmen und der gefährlichen Umweltverschmutzung den wenig schmeichelhaften Titel der „dreckigsten Stadt Europas“.
Bitterfeld gehörte zu den Zentren des Aufstands
Doch schon 1953 lag vieles im Argen, Millionen Ostdeutsche gingen in den Westen. Die auf dem letzten SED-Parteitag beschlossene Heraufsetzung der Arbeitsnormen und die seit Jahren bestehende schlechte Lebensmittel- und Konsumgüterversorgung brachte die Menschen am 17. Juni auf die Straße. Über RIAS, den Rundfunk im amerikanischen Sektor, den viele DDR-Bürger heimlich hörten, wurde berichtet, dass es in Berlin und anderen Städten große Streiks und Protestmärsche gab. „Die Stimmung war sehr aufgeheizt“, erinnert sich Kröger.
Gegenüber des Bahnhofs in Bitterfeld befanden sich die SED-Kreisleitung sowie das Gebäude der Kreispolizei, bewaffnete Polizisten standen davor, um es zu schützen. Tatsächlich gehörte Bitterfeld an diesem Tag zu den wichtigsten Zentren des Aufstandes gegen die SED-Diktatur. Mehr als 50.000 Menschen demonstrierten auf dem zentralen Platz der Jugend und der Binnengartenwiese – das waren mehr als Bitterfeld überhaupt Einwohner hatte. Die Forderungen der Demonstranten: Die Herausgabe der politischen Gefangenen, die Zurücknahme der neuen Arbeitsnormen, freie Wahlen und der Rücktritt von Staatschef Walter Ulbricht.
„Diese Szene werde ich wohl nie vergessen“
Nichts davon geschah, stattdessen gab es auch in Bitterfeld Verhaftungen und Verletzte. Und als Kröger, der sich die Geschehnisse aus einiger Entfernung ansah, hochschaute, öffnete sich im ersten Stock des Kreispolizeiamts plötzlich ein Fenster. „Jemand schoss aus dem Fenster und traf einen Mann, der zufällig mit dem Rad vorbei kam und gar nichts mit den Demonstrationen zu tun hatte“, erzählt er. Der Mann stürzte vom Rad, er war tödlich getroffen worden. „Diese Szene werde ich wohl nie vergessen.“ Am nächsten Tag standen überall sowjetische Panzer, es gab ein strenges Ausgangsverbot. „Das Aufbäumen war vorbei, der Aufstand niedergeschlagen“, so Kröger.
Einige Wochen später begann Kröger im Braunkohlewerk eine Lehre zum Schlosser, die er mit 16 Jahren beendete. In der DDR hielt es ihn nur noch ein Jahr länger: 1956 ging er in den Westen, unterstützt von seiner Mutter, die abgesprochen hatte, dass Kröger bei seinem Großonkel im westfälischen Bad Oeynhausen wohnen konnte. Mit den Grenzgängen hatte Kröger Erfahrung, immer wieder hatte er Ferien bei der Verwandtschaft gemacht, auch schwarz hatte er die Grenze mit seiner Mutter schon passiert. „Nach der Gründung der Nationalen Volksarmee wurde es aber schwieriger, einen Zonenpass zu bekommen“, so Kröger.
In die DDR kehrte Kröger nur noch für Besuche zurück
Es klappte trotzdem, so dass er in NRW einen neuen Anfang machen konnte. Seit 1960 lebt Kröger in Duisburg-Rheinhausen, wo er 1962 auch heiratete und die zwei Kinder aufwuchsen. Bis zu seinem Ruhestand arbeitete Kröger als Ingenieur bei Thyssenkrupp Fördertechnik, mittlerweile ist der 81-Jährige ehrenamtlich in der Kirche und im Altenheim aktiv. Seine Mutter, die wegen ihres Mannes im sächsischen Delitzsch blieb, konnte Kröger trotz der Mauer regelmäßig sehen. „Ich war ab 1966 jedes Jahr dort und sie kam auch in den Westen, das hat mit den entsprechenden Anträgen funktioniert“, erklärt er.
Die Entscheidung wieder zurück nach NRW zu gehen, hat Kröger nie bereut. „Ich fand es furchtbar in der DDR, vor allem nach dem 17. Juni. Man konnte seinen Nachbarn nicht trauen, flüsterte in der eigenen Wohnung und bei RIAS lasen sie täglich die Namen der Menschen vor, die umgekommen waren, weil ein Stasi-Spitzel sie verraten hatte.“