Neukirchen-Vluyn. Deborah und Ralf Marschner erzählen von der Jugend in Chemnitz, dem Stasi-Terror, von unehrlichen Freunden und dem Ende der DDR.
Der Schrecken holt Deborah Marschner wieder ein, wenn sie an bestimmte Situationen in ihrer Kindheit in Chemnitz denkt. Der Stasi-Terror war jahrelang allgegenwärtig. „Ich sehe noch die Stasileute, wie sie ständig drohend vor unserer Haustür standen und uns terrorisierten. Ich konnte als Kind beim Hinausgehen in ihre Gesichter im Auto sehen“, erinnert sich die Künstlerin.
Auch ihr Mann Ralf Marschner hat schlimme Erinnerungen an die DDR-Zeit. Er war schon älter, als er sich für den Widerstand entschied. „Heute sind wir froh und dankbar, hier in Freiheit leben zu können“, so das Fazit der beiden zum 30-jährigen Jahrestag des Mauerfalls.
Das Wenige hat gereicht
Deborah Marschner blickt zurück: „Mein Vater war Gemeindepfarrer in Chemnitz und gründete in den 70ern die Jugendgottesdienste.“ Anfangs seien da vielleicht 100 junge Leute gekommen, später seien es 1000 gewesen. „Das war dem DDR-Staat ein Dorn im Auge. Man hatte Angst, Widerstand könne sich formieren.“ Zudem liebte der Vater Jazz- und Gospel-Musik – ebenfalls als feindlich verpönt. „Seine Doktorarbeit schrieb er über Spirituals. Das Wenige hat schon gereicht, als Staatsfeind dazustehen“, sagt sie.
Die DDR wollte den unliebsamen Pfarrer loswerden. Mehrfach stand die Stasi vor der Tür, der Vater sollte das DDR-Ausreisedokument unterschreiben. „Auch zum Geburtstag meiner Schwester, als das Haus voller Gäste war. Peinlich. Aber mein Vater weigerte sich standhaft. Er wollte dableiben und kämpfen.“
Mancher unliebsame Bürger sei damals im Gefängnis gelandet, wo – heute oft nicht mehr bekannt – Menschen tagtäglich gefoltert und drangsaliert wurden.
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Alle Post der Familie wurde geöffnet. „Das sah man an dem feinen Riss an der Umschlagseite.“ Telefone wurden abgehört: „Das hörte man am Knacken in der Leitung.“ Aber dass das ganze Haus verwanzt war und der beste Freund des Vaters und dessen Frau Spitzel geworden waren, erfuhr die Familie erst nach dem Mauerfall. „Vater erkannte die Handschrift des Freundes in den Stasiakten wieder. Und unser Elektriker hat uns später berichtet, er sei gezwungen worden, bei uns im Haus überall Wanzen anzubringen.“ Viele hätten sich den Drohungen der Stasi nicht entziehen können.
Bespitzelung gab es überall
Ralf Marschner bekannte sich in Chemnitz schon früh zum Christentum. „Mein Freund und ich trugen in der Schule das Abzeichen der jungen Gemeinde am Revers“, sagt er und legt die alte, schlichte Nadel auf den Tisch. Das Kreuz auf der Weltkugel. „Ein altes Symbol der jungen Christen. Mit diesem Abzeichen bekamen wir kein Essen mehr in der Schulkantine. Wir sollten es ablegen, so der Chemielehrer später. Er war auch ein Stasimann, wie wir dann wussten.“ Bespitzelung in jedem Bereich des Lebens. Sogar an der Karl-Marx-Universität in Leipzig, wo Ralf Marschner dann doch noch Theologie studierte, wurde ausgespäht und denunziert.
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Tiefgreifende Erinnerungen haben sie an die Zeit im Oktober ‘89 in Leipzig: „Zur Einschüchterung weiterer Demonstranten wurden am 8. Oktober auf den Straßen willkürlich Menschen verhaftet, teilweise einfach auf die Lastwagen geworfen. Sie mussten in Lagerhallen bis in die Nacht breitbeinig mit erhobenen Armen stehen, konnten nicht zur Toilette, bekamen keinerlei Versorgung. Manche hatten einfach nur zum Briefkasten gehen wollen.“
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Bis am 9. Oktober, einem Montag, in den Kirchen wieder Friedensgebete begannen. „In Leipzig formierte sich der erste Marsch über den Ring an der Stasizentrale vorbei. 70.000 waren es. Die Polizeikräfte hätten gereicht, um 20.000 Menschen zusammenzuknüppeln...“, schildert Deborah Marschner. Am Ende seien es 150.000 Bürger gewesen.
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Wiederum später erlebten die Marschners am Fernseher die berühmten Worte Günter Schabowskis von der Ausreisegenehmigung für alle DDR-Bürger, „das gilt ab sofort, unverzüglich“.
Es dauerte noch bis zu den ersten freien Wahlen im folgenden März: „Erst da haben wir richtig verstanden, dass wir frei waren“, sagt Deborah Marschner dankbar. Heute lebt das Paar in Neukirchen-Vluyn. Ralf Marschner arbeitet beim Neukirchener Kalenderverlag, seine Frau wirkt als Künstlerin, Kunstpädagogin und Kunsttherapeutin im Kreativhof. Und wen wundert’s: „Reisen ist unsere große Leidenschaft.“