Dinslaken/Essen. Nach einem Fluchtversuch landete Peter Keup 1981 in Stasi-Haft. Heute arbeitet der Wahl-Essener in dem Gebäude, wo er zuvor fünf Monate einsaß.
Bereits als Jugendlicher erlebt Peter Keup die Restriktionen des DDR-Regimes – Schulausschluss, Einschränkungen bei der Berufswahl, Sportverbot. Der Grund: Seine Eltern hatten 1975 einen Ausreiseantrag in die Bundesrepublik gestellt. Am 17. Juli 1981 wagt der damals 22-Jährige die Flucht. Der Versuch misslingt und Keup landet in Stasi-U-Haft. Der ehemalige Besitzer einer Dinslakener Tanzschule erzählt, warum es ihn drei Jahrzehnte später wieder zurück zu seinem ehemaligen Gefängnis zog.
Wie hat sich Ihr Leben nach dem Ausreiseantrag Ihrer Eltern verändert?
Wir galten als ‚Verräter‘. Ich bin von der Schule geflogen und habe nach der zehnten Klasse Schriftsetzer lernen müssen. Das schien mir bei den wenigen Optionen, die mir blieben, noch am anspruchsvollsten. Ich hätte in der DDR kein Abitur machen dürfen, nicht studieren können und durfte nicht mal mehr den Sport treiben, den ich wollte. Ich war Leichtathlet, aber staatliche Sportklubs waren für mich Tabu. Deswegen habe ich mich mit meiner Schwester fürs Tanzen entschieden. Da hat der Staat nicht so genau hingeguckt, weil es eher eine Randsportart war.
Wann reifte in Ihnen der Entschluss für Ihren Fluchtversuch?
Die Flucht war irgendwann alternativlos. Die Anträge, die meine Eltern stellten, wurden immer wieder abgelehnt. Legal gab es keinen Weg, die DDR zu verlassen. Außerdem konnte ich mich beruflich nicht entfalten. Mir fehlte die Perspektive, nochmal etwas anderes zu lernen. Als wir 1981 Dritter bei der DDR-Meisterschaft wurden, stieg auch beim Tanzen der Druck, weil wir mit der Platzierung eigentlich zum Nationalteam gehörten. Wir durften die DDR aber nur vertreten, wenn wir beide den Ausreiseantrag zurückgezogen hätten. Kurz darauf habe ich für mich entschieden: Ich versuch’s.
Am 17. Juli 1981 wollten Sie über Ungarn in den Westen fliehen. Was lief schief?
Über eine Freundin meiner Mutter bin ich mit jemandem in Kontakt gekommen, der im Gegensatz zu mir einen klaren Fluchtplan hatte. Die Idee war, über die Tschechoslowakei nach Ungarn zu reisen, sich unbemerkt bis ins Grenzgebiet zu Österreich durchzuschlagen und durch die Donau zu schwimmen. Ich kam bei der Einreise in die Tschechoslowakei in eine Fahrkartenkontrolle. Mir war klar, dass an der Grenze Fahrkarte und Personalausweis kontrolliert werden. Ausgerechnet an dem Tag wollte der Kontrolleur aber auch die Rückfahrkarte sehen – und die konnte ich nicht vorweisen.
Wie ging es dann weiter?
Ich bin in einer kleinen Hütte am Bahnsteig verhört worden. Die Befragung dauerte fast 40 Stunden, bis ich den Fluchtversuch eingeräumt habe. Dann musste ich in eine Art Lieferauto einsteigen, mit fünf Zellen, in die so gerade ein Mensch passte. Ich saß mit Handschellen in einem komplett dunklen Raum. Das war der erste Moment, in dem ich mich völlig allein und hilflos fühlte. Von da aus ging es nach Dresden in die Untersuchungshaftanstalt. Wobei ich damals nie wusste, wo ich war. Ich wusste zwar, dass die Gefängnisbeamten deutsch sprachen, aber mehr auch nicht.
Hatten Sie eine Vermutung, welche Strafe Sie erhalten?
Nein, bis zur Gerichtsverhandlung hatte ich drei Monate lang keine Ahnung, was mich erwartet. Ich war komplett abgekapselt und hatte auch anfangs keinerlei Kontakt zu meiner Familie. Ich durfte einmal am Tag die Zelle verlassen und kam in einen Raum, wo zwischen Mauer und Dach ein kleiner Spalt war. Da kam ein bisschen Frischluft rein, aber im Hafthaus musste ich immer nach unten gucken.
Wie war der Alltag in Isolationshaft?
Man versucht, nachts zu schlafen. Das klappt nicht immer, aber wenn man schlafen kann, ist es das Beste. Tagsüber habe ich mir vorgestellt, wie es wohl außerhalb des Gefängnisses ist. Man träumt sich da irgendwie raus. Außerdem wurde ich immer mal wieder zur Vernehmung geholt. Das war das absolute Highlight, weil der Vernehmer der einzige war, mit dem ich reden konnte und der mich beim Namen genannt hat. Ich habe stets gedacht: Hoffentlich komme ich heute zum Vernehmer.
Konnten Sie sich im Laufe der U-Haft an die Isolation gewöhnen?
Man kann es durchstehen, aber sich nicht daran gewöhnen. Ich habe permanent darauf gewartet, dass es zu Ende ist. Deswegen kann ich mir heute in Zeiten von Corona gut vorstellen, wie sich alleinlebende Menschen fühlen. Vor allem wenn Kontaktsperren kurzfristig um 14 Tage verlängert werden. 14 Tage sind unheimlich lang, aber es ist zumindest eine Orientierungsgröße. Die hatte ich in Isolationshaft nie.
Sie wurden zu zehn Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Wo hat man Sie danach hingebracht?
Ich bin in einem Sammellager gelandet, von wo aus wir auf die Gefängnisse verteilt wurden. Dann gab es die Ansage, dass ich nach Cottbus komme und so ging es zum Bahnhof Dresden. In Cottbus mussten wir aussteigen und zum Gefängnis laufen. Da war es völlig anders: Wir waren teilweise mit bis zu 18 Häftlingen in einer Zelle. Das war ein Schock für mich. Ich kam ja gerade erst aus der Isolationshaft. Einmal am Tag durften wir auf den großen Hof, da habe ich jemanden kennengelernt, mit dem ich heute noch befreundet bin. Von dem Moment an war es eine deutliche Verbesserung.
1982 hat Sie die BRD freigekauft. Überwog die Erleichterung oder haben Sie gedacht, das Geld hätte man lieber anders nutzen können?
Die Haftentlassung ging einher mit einem unglaublichen Dankbarkeitsgefühl. Der deutsche Staat hat, wenn man der Forschung glauben will, 100.000 D-Mark für mich bezahlt. Meine Familie musste nichts dazugeben. Auch wenn es strenggenommen Menschenhandel war. Die Bundesrepublik hat sich mit dieser Praxis nicht nur Freunde gemacht. Deshalb wurde uns auch gesagt, dass wir Stillschweigen bewahren sollen.
Sie arbeiten seit einigen Jahren im DDR-Zeitzeugenprogramm. Wie kam es dazu?
Ich habe 2009 eine Filmemacherin kennengelernt, die einen Film über meine U-Haft gedreht hat. Von da an sind die Ruhruniversität Bochum und die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur auf mich aufmerksam geworden. 2012 habe ich mich dann dazu entschieden, Kulturwissenschaften zu studieren. 2019 habe ich den Master in politisch-historischen Studien abgeschlossen und seit Februar promoviere ich an der Uni Bonn. Außerdem wurde mir eine Stelle im Menschenrechtszentrum Cottbus angeboten. Das ist zufälligerweise mein ehemaliges Gefängnis. Ich habe also den Schlüssel von dem Gebäude, wo ich fünf Monate eingesessen habe.
Wie war das Gefühl, wieder nach Cottbus zurückzukehren?
Es ist irre. Immer wenn ich an Cottbus gedacht habe, war das für mich nur das Gefängnis. Der Weg vom Bahnhof war natürlich schwierig. Aber es überwiegt das Gefühl, dass ich was für die Demokratie tun kann. Das finde ich positiv überwältigend. Ich könnte sogar in dem Gefängnisgebäude übernachten – es gibt da Gästebetten. Aber das kann ich nicht. Ich will rein, aber nach der Arbeit auch wieder raus.
>>> Zur Person
Peter Keup zog 1982 zu seinen Großeltern nach Essen. Dort holte der damals 23-Jährige sein Abitur nach und studierte anschließend Wirtschaft an der Universität Dortmund. Parallel absolvierte Keup eine Tanzlehrerausbildung. 1989 eröffnete er in Dinslaken eine eigene Tanzschule, die er 2013 an einen Mitarbeiter abgab. Seit dem 1. April 2020 arbeitet Keup im Menschenrechtszentrum Cottbus. Bereits neun Jahre zuvor begann er, vor Schüler- und Lehrergruppen von seiner Zeit in Stasi-Haft zu berichten.