Camp Eysan. Das Coronavirus wirkt sich auch auf die Flüchtlingscamps im Nordirak aus. Eine Spendenaktion läuft: Die Menschen dort brauchen Hilfe.
Hossein Ali Eisa sitzt auf der schmalen, dünnen Matratze an der Stirnseite seines Zeltes, an den Längsseiten kauern seine Frau und einige seiner neun Kinder. Er blickt unsicher in die Kamera, es ist eine ungewöhnliche Situation für ihn. Ein Video-Interview mit einem deutschen Journalisten, in dessen Wohnzimmer über 4000 Kilometer entfernt er schauen kann. Eisa, 46, lebt mit seiner Familie in einem Flüchtlingscamp in der autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Das Zelt ist seit fast sechs Jahren sein zu Hause. In der Corona-Krise durfte die Familie es wochenlang nicht verlassen.
Camp Esyan in der Provinz Dohuk im Nordwesten der Kurdenregion, eines von 20 Flüchtlingslagern in der Provinz. Noch immer beherbergt Kurdistan 1,1 Millionen Flüchtlinge. Menschen, die vor dem Krieg im Nachbarland Syrien geflohen sind, Binnenvertriebene, die 2014 vor dem Wahn der Terroristen des „Islamischen Staats“ (IS) fliehen mussten.
Seit 2014 im Flüchtlingscamp
Hossein Ali Eisa stammt aus der Shingal-Region im äußersten Nordwesten des Irak, gut 150 Kilometer entfernt von Dohuk. Er ist Jeside, Angehöriger einer Minderheit, die von den IS-Fanatikern als angebliche „Teufelsanbeter“ besonders brutal verfolgt wurden. „Ich habe früher als Landwirt gearbeitet“, erzählt er auf Kurdisch. Shero Smo, ein junger Manager eines Flüchtlingscamps in der Nachbarschaft, übersetzt, was Eisa berichtet. Im August 2014 musste er mit seiner Familie Hals über Kopf fliehen, als der IS die Shingal-Region überrannte, so wie Hunderttausende andere Jesiden.
Retten konnten sie nur ihr Leben. Seit Dezember 2014 lebt die Familie im Camp Esyan, zusammen mit fast 15.000 anderen jesidischen Flüchtlingen. Ihr Zuhause sind zwei Zelte, jedes etwa 20 Quadratmeter groß, nackter Betonboden, die dünnen Matratzen, auf denen sie sitzen und schlafen, ein alter Röhrenfernseher, zwischen den Zelten eine provisorische Kochstelle. Toilette und Dusche teilen sie sich mit drei anderen Familien.
Ausgangssperre seit dem 19. März
Die vergangenen Jahre waren hart genug. Die brüllend heißen Sommer, die kalten Winter, die Herbstmonate, wenn Wasserfluten vom Himmel stürzen, die Zelte im Camp überschwemmen und das Gelände in einen matschigen Sumpf verwandeln, in dem man knöcheltief versinkt. „Wir haben hier unsere Würde verloren“, sagt Eisa und senkt den Blick. Er fährt sich mit der Hand durchs Gesicht, streicht über seinen Schnurrbart, räuspert sich. „Die vergangenen Wochen waren besonders hart.“
Auf den Ausbruch der Corona-Pandemie reagierte die kurdische Autonomieregierung mit harschen Maßnahmen. Das Gesundheitssystem ist ohnehin durch die gewaltige Zahl an Flüchtlingen überbeansprucht. Eine Ausbreitung des Virus in den Camps wäre eine Katastrophe. Also verhängte die Regierung ab dem 19. März eine rigide Ausgangssperre. Eisa und seine Familie und all die anderen Flüchtlinge im Camp durften ihre Zelte nur noch verlassen, um die Toilette und die Dusche zu benutzen. Seine jüngeren Kinder durften nicht mehr die Schule im Camp besuchen, seine beiden ältesten Söhne nicht mehr zum College in Dohuk.
Viele von ihnen sind ohnehin schwer traumatisiert
Kein Home-Schooling. Kein Home-Office. Keine Möglichkeit, in den Park oder einkaufen zu gehen, keine Skype-Partys. Kein Pizza-Lieferservice. Nur die beiden Zelte, in denen zusammenhocken mussten. Fast zwei Monate lang. „Wir haben den ganzen Tag Fernsehen geschaut und darauf gewartet, dass es Neuigkeiten gibt.“ Wie belastend das war? Eisa zögert, überlegt. „Es war nicht einfach, besonders für die Kinder.“ Immerhin: Es habe nur manchmal Streit gegeben.
Der Psychologe Jan Ilhan Kizilhan aus Donaueschingen, selbst Jeside, betreut seit Jahren die Flüchtlinge in Kurdistan. Viele von ihnen sind ohnehin schwer traumatisiert, weil sie ihre Heimat verloren haben, die Gräueltaten des IS erleben mussten, Angehörige verloren oder entführt und vergewaltigt wurden.
Corona-Krise hat seelische Verfassung von Flüchtlingen verschlimmert
In einer Kurzstudie schreibt Kizilhan, die Corona-Krise haben die seelische Verfassung vieler Flüchtlinge verschlimmert, die Selbstmordrate sei gestiegen.
Im Camp Esyan hat sich in den vergangenen Wochen niemand umgebracht, berichtet Sadullalu Abdullah Hameed, der Leiter des Camps. „Wir haben bislang Glück gehabt.“ Hameed sagt aber auch, dass die Situation schwierig ist. Die Arbeit internationaler Hilfsorganisationen ist nahezu zum Stillstand gekommen, die kurdische Regionalregierung in finanziellen Nöten. Vielen der Flüchtlinge ist ihr karges Einkommen weggebrochen, weil sie nicht mehr als Tagelöhner arbeiten können. „Die Menschen brauchen dringend Unterstützung“, betont Hammed.
700 Infektionen und sieben Tote in Kurdistan
Ob Hossein Ali Eisa wütend auf die Regierung ist, weil sie ihn und seine Familie in die Zelte eingesperrt hat? Er schaut, als verstehe er die Frage nicht. Nein, natürlich nicht. „Diese Krankheit ist gefährlich.“ Was ihn vielmehr umtreibt, ist die Frage, ob er irgendwann wieder in sein Dorf zurückkehren darf.
Am Sonntag, zwei Tage nach dem Interview, registriert die kurdische Regionalregierung über 100 neue Corona-Fälle, so viele, wie noch an keinem Tag. Sie ordnet erneut eine strikte Ausgangssperre an. Sie soll bis zum 6. Juni gelten. Bislang werden aus Kurdistan rund 700 Infektionen und sieben Tote gemeldet.
So können Sie helfen
Die Caritas Flüchtlingshilfe Essen (CFE) hat mit Hilfe zahlreicher Spender rund 3500 Flüchtlingsfamilien mit Lebensmittelpaketen unterstützen können. Gespendet haben auch NRZ-Leser und NRZ-Herausgeber Heinrich Meyer. Ein solches Paket kostet 30 Euro. Im Camp Esyan sind mindestens 500 Familien auf Hilfe angewiesen. Daher bittet die CFE um weitere Spenden: Bank im Bistum Essen, DE45 3606 0295 0000 1026 28, Stichwort: Corona-Hilfe Kurdistan