An Rhein und Ruhr. Marlis Tunnat hat 2015 in der Flüchtlingskrise mit angepackt. Jetzt kritisiert sie die Flüchtlingspolitik. Die Geschichte einer Enttäuschten.

Am Anfang, erzählt Marlis Tunnat, da war sie mit Begeisterung dabei. Wenn sie etwas macht, dann stets mit Überzeugung, das betont die Pensionärin. So war es auch 2015, als die Flüchtlinge kamen. Marlis Tunnat engagierte sich bei einem Essener Flüchtlingshilfe-Verein. Mittlerweile aber hat sie sich zu einer scharfen Kritikerin der Flüchtlingspolitik entwickelt.

Mitte 2015. Noch hat das nicht begonnen, was später als Flüchtlingskrise bezeichnet werden wird. Es wird noch einige Monate dauern, bis Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren legendären Satz sagt: „Wir schaffen das“. Menschen, die in der Flüchtlingshilfe arbeiten, haben aber bereits eine Vorahnung. Es ist klar: Der Staat wird bald nicht mehr klar kommen, weil er nicht ausreichend vorbereitet ist, weil die Verantwortlichen nicht wahrhaben wollen, was geschehen wird, obwohl die Zeichen deutlich erkennbar sind.

Am Anfang mit sehr viel Enthusiasmus dabei

In Essen gründet ein Flüchtlingshilfe-Verein ein Möbellager, um die Erstausstattung von Geflüchteten zu unterstützen. „In der Zeitung stand, der Verein suche ehrenamtliche Helfer“, erinnert sich Tunnat. Sie war damals gerade pensioniert worden und ohnehin auf der Suche nach einer sinnvollen Beschäftigung. „Ich bin da mit sehr viel Enthusiasmus reingegangen.“

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So wie Millionen, die damals den staatlichen Institutionen unter die Arme griffen, in den Aufnahmeeinrichtungen halfen, Deutschkurse gaben, Beratung leisteten. Das Bundesfamilienministerium berichtete im November 2017, rund ein Viertel der Bevölkerung habe sich ehrenamtlich für Flüchtlinge engagiert. Allein bei dem Essener Flüchtlingshilfe-Verein arbeiteten insgesamt rund 300 Ehrenamtliche.

Schöne Begegnungen und Gespräche

Ein Jahr lang organisierte Tunnat das Möbellager, mit der gleichen Akribie, mit der sie zuvor als Beamtin Fortbildungen geplant hatte. Unordnung kann sie nicht leiden. „Wir haben die Möbel so aufgestellt, als käme man in ein Möbelhaus.“ Mit deutschen Fahrern fuhr sie zu Wohnungsauflösungen, Flüchtlinge packten als Helfer mit an. „Wir haben so viele Angebote bekommen, ganze Villen leergeräumt.“

Häufig sei es zu schönen Begegnungen und Gesprächen mit denjenigen gekommen, die die Möbel überließen. Eigentlich eine gute Zeit.

Desillusionierende Erlebnisse

Im Laufe der Zeit ärgerte sich Tunnat aber immer mehr, nicht nur über organisatorische Probleme oder das Chaos, das häufig entstanden sei, wenn die Flüchtlinge über das Möbellager „herfielen“, wie sie es heute ausdrückt. Sie begann auch immer mehr daran zu zweifeln, ob die Flüchtlingspolitik generell richtig war. Nach etwa einem Jahr beschloss sie, ihr ehrenamtliches Engagement zu beenden.

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Für Marlis Tunnat stand es anfangs außer Frage, dass Deutschland so viele Flüchtlinge aufnimmt. „Die Notwendigkeit habe ich überhaupt nicht angezweifelt.“ Verschiedene Erlebnisse desillusionierten sie. Der irakische Journalist, der ihr einen Heiratsantrag machte und sich weigerte, seiner behinderten, im Rollstuhl sitzenden Frau im Haushalt zu helfen. Männliche Flüchtlinge, von denen sie sich nicht ernst genommen fühlte. Eltern, die sich nicht ausreichend um die Schulbildung ihrer Kinder kümmerten. „Man hätte den Flüchtlingen von Anfang an deutsche Umgangsformen und Werte näher bringen müssen“, sagt sie.

Tunnat: Mit unserer Gesellschaft nicht kompatibel

Das, was sie „deutsche Tugenden“ nennt, ist ihr wichtig. Fleiß, Pünktlichkeit, Ordnung. Ganz besonders hätte sie sich eine deutlichere Aufklärung über die Stellung der Frau und die Geschlechterrollen gewünscht. Oder wie man sich in der Öffentlichkeit benimmt. „Das Verhalten mancher neuer Mitbürger ist grenzwertig“, klagt Tunnat. In der Essener Innenstadt will sie nachts nicht mehr alleine unterwegs sein.

Wenn Enthusiasmus in Enttäuschung umschlägt, ist die Empörung nicht fern. Heute teilt Marlis Tunnat auf Facebook Beiträge, die mit der Flüchtlingspolitik hart ins Gericht gehen oder in denen es um Straftaten von Geflüchteten geht. Sie sei keine Rechtspopulistin, beteuert sie, sie sei konservativ. Es seien aber viele Menschen aus gesellschaftlichen Verhältnissen gekommen, die „mit unserer Gesellschaft nicht kompatibel sind“. Sie sagt, sie hätte es sich gewünscht, „dass es mit der Integration problemloser funktionieren würde“.

Tunnat ist gegen die Aufnahme neuer Flüchtlinge

Jetzt stehen an der griechisch-türkischen Grenze wieder Tausende Flüchtlinge. Tunnat ist dagegen, sie aufzunehmen. „Das ist natürlich schlimm für die Menschen, aber wir haben ja noch nicht einmal die integriert, die 2015 zu uns gekommen sind“, betont sie. Wenn es so organisiert würde, dass auch andere europäische Länder Flüchtlinge aufnehmen würden, wenn es also eine europäische Solidarität in der Flüchtlingspolitik gäbe, dann wäre es okay, sagt sie. Aber eben nicht Deutschland allein.

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Ín unserer Serie „Wir schaffen das“ - „Was haben wir geschafft?“ blicken wir zurück auf die Flüchtlingskrise im Jahr 2015 und ihre Herausforderungen. Wir berichten anhand von Einzelschicksalen, was gut und was weniger gut funktioniert hat.