Bedburg-Hau. In Altbaukliniken hat es in den vergangenen fünf Jahren vier Ausbrüche gegeben. Aus neuen Einrichtungen ist allerdings noch niemand ausgebrochen.
Die erneute Geiselnahme und Flucht von Patienten aus der forensischen Klinik in Bedburg-Hau im niederrheinischen Kreis Kleve wirft Fragen zur Sicherheit der Forensiken auf. Vor drei Jahren, an einem Maiabend im Jahr 2017, nahmen zwei Täter einen Pfleger als Geisel, um aus der Klinik zu flüchten. Im Februar 2018 sind die beiden zu siebeneinhalb und achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Wie können Patienten an Messer gelangen und wie kann es sein, dass Patienten angeben, den Müll herausbringen zu wollen, um auf diesem Weg zu flüchten, wie es wohl in Bedburg-Hau der Fall war?
Das ist noch Gegenstand der polizeilichen Ermittlungen. Darauf verweist auch eine Sprecherin des NRW-Gesundheitsministeriums und fügt hinzu: "Das Maßregelvollzugsgesetz sieht eine größtmögliche Annäherung der Unterbringung an allgemeine Lebens- und Arbeitsverhältnisse vor. Einschränkungen sind nur unter strengen gesetzlichen Voraussetzungen möglich. Einschätzbare Patienten können Messer, die auf den Stationsstützpunkten vorgehalten werden, gegen Unterschrift für den Zeitraum der Zubereitung von Speisen ausleihen."
Gibt es Sicherheitslücken in forensischen Kliniken?
Vor allem die neueren Einrichtungen sind mit beispielsweise 5,50 Meter hohen Zäunen gesichert, es gibt Kameraüberwachungen und Schleusensysteme. Auch der forensische Bau in Bedburg-Hau sei „ein hochgesicherter Bereich“, sagt Karin Knöbelspies, die beim Landschaftsverband Rheinland (LVR) zuständig für den Maßregelvollzug zuständig ist, im Gespräch mit der Redaktion.
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Unterschieden wird zwischen Entweichungen und Fluchten. Im aktuellen Fall in Bedburg-Hau handelt es sich um eine Flucht. Das sei „ein sehr seltenes Ereignis“, so Knöbelspies. Zu den Entweichungen komme es, wenn die Patienten nicht rechtzeitig von ihrem unbegleiteten Ausgang zurückkehren. In der Regel, so Knöbelspies, kämen sie innerhalb von 24 Stunden zurück oder würden aufgegriffen. Wie frei sich die Straftäter bewegen können, hänge von der Entwicklung der Patienten ab. So gebe es zunächst einen durch Personal begleiteten Ausgang auf dem Gelände, später einen unbegleiteten Ausgang innerhalb des Geländes. Bei weiterhin guter Entwicklung werde ihnen begleiteter Ausgang - und schließlich unbegleiteter - außerhalb des Klinikgeländes gewährt. Es werde jedes Mal genau geprüft, wie absprachebereit der Patient ist, erklärt Knöbelspies.
Zudem fänden für alle Beschäftigten regelmäßig Fortbildungen zu sicherheitsrelevanten Themen statt und es erfolgten turnusmäßige Begehungen der Kliniken durch die Polizei und den Landesbeauftragten für den Maßregelvollzug, erklärt eine Sprecherin des NRW-Gesundheitsministeriums.
Aus den in den vergangenen 14 Jahren in NRW neu errichteten forensischen Kliniken konnte nach Angaben des NRW-Gesundheitsministeriums auf Anfrage der Redaktion niemand ausbrechen. Aus Altbaukliniken habe es in den vergangenen fünf Jahren - einschließlich des Vorfalls vom 25. Mai 2020 in Bedburg-Hau - vier Ausbrüche gegeben. Fluchtversuche werden statistisch nicht gesondert erfasst.
Wie ist das Verhältnis zwischen Wärtern und Patienten – auch im Vergleich zum herkömmlichen Justizvollzug?
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Der Personalaufwand in den Kliniken sei hoch, sagt Karin Knöbelspies vom LVR. Das Gesundheitsministerium ergänzt: "Bei den Maßregelvollzugskliniken handelt es sich um Psychiatrische Krankenhäuser, in denen überwiegend therapeutisches und pflegerisches Personal eingesetzt wird. Aus diesem Grunde ist der Personaleinsatz in den forensischen Kliniken nicht mit dem Einsatz von überwiegend mit Sicherheitsaufgaben betrautem Personal in den Justizvollzugsanstalten zu vergleichen. In NRW wurden bei einer durchschnittlichen Belegung von 3.027 Patienten im Jahr 2018 jahresdurchschnittlich 2.637 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter allein für den therapeutischen Dienst und den Pflegedienst eingesetzt."
Sind in der Vergangenheit geflüchtete Patienten wieder aufgegriffen worden?
Nur wenigen Geflüchteten gelingt es nach Angaben des NRW-Gesundheitsministeriums, über einen längeren Zeitraum nicht wieder aufgegriffen zu werden.
Welche Straftäter sind in forensischen Kliniken untergebracht?
In forensischen Kliniken sind Menschen untergebracht, die von Gerichten entweder nach Paragraf 63 oder Paragraf 64 Strafgesetzbuch verurteilt worden sind. Will heißen: Sie gelten als schuldunfähig oder vermindert schuldfähig, weil sie psychisch krank (§63) oder drogenabhängig (§64) sind. Den größten Anteil der Insassen stellen die psychisch kranken Täter.
Wie lange bleiben die Straftäter in den forensischen Einrichtungen?
In der Regel bleiben sie länger in einer Forensik als in einer normalen Justizvollzugsanstalt, erläutert Karin Knöbelspies. Psychisch kranke Täter haben eine Durchschnittsverweildauer von sieben bis acht Jahren, erklärt sie im Gespräch mit der Redaktion.
Wie erfolgreich sind die Therapien?
Bei psychisch kranken Tätern sei die Rückfallquote gering, sagt Knöbelspies. Bei den drogenabhängigen Tätern hingegen würden 50 Prozent wieder in der JVA landen.
Wie viele Forensiken gibt es in NRW?
Derzeit gibt es 16 Maßregelvollzugseinrichtungen. Träger sind die Landschaftsverbände Westfalen und Rheinland, zwei befinden sich in privater Trägerschaft.
Gibt es im Maßregelvollzug ausreichend Plätze für Straftäter?
„Es gibt bundesweit einen sehr hohen Druck bei den Suchtabhängigen“, sagt Knöbelspies. Es gebe nicht mehr viele freie Plätze. Das Land NRW plant deshalb den Neubau von forensischen Kliniken in Hörstel, Lünen, Wuppertal Haltern am See und Reichshof. An allen Standorten regt sich Widerstand in Form von Bürgerinitiativen. Die Stadt Lünen hat nach Auskunft des NRW-Gesundheitsministeriums gegen den Bauvorbescheid geklagt. Die Stadt Lünen erstelle einen Bebauungsplan für die Klinik auf einem benachbarten Grundstück. Ein Satzungsbeschluss werde im kommenden Monat erwartet. In Hörstel sei ein Baubeginn Ende 2020 vorgesehen. Die Stadt Wuppertal habe den Bebauungsplan für die „Kleine Höhe“ vorbereitet. Die Ratssitzung für den Satzungsbeschluss ist für Juni terminiert. Sollte es für den Bebauungsplan keine Mehrheit geben, werde das Land eine landeseigene Alternativfläche (Parkstraße) beplanen. Die weiteren Planungen an den Standorten Haltern und Reichshof wurden zurückgestellt, um die anderen Standorte vorrangig zu entwickeln, erklärt eine Sprecherin.
Auf seiner Internetseite schreibt das Gesundheitsministerium, dass sich die Zahl der Maßregelvollzugspatienten in den zehn Jahren zuvor um zwei Drittel erhöht habe. Wie sieht die Lage derzeit aus?
"Die Steigerungsraten haben sich grundsätzlich abgeflacht. Aber: während zum 01.01.2010 in NRW 2.663 Patientinnen und Patienten im Maßregelvollzug untergebracht waren, ist ihre Zahl bis zum 01.01.2020 insgesamt um etwa 500 auf 3.160 gestiegen. Allerdings ist allein im Zeitraum 01.01.2019 bis 01.01.2020 ein Anstieg um 110 Patientinnen und Patienten zu verzeichnen", antwortet eine Ministeriumssprecherin.