Kalkar. Drogen und Messerstechereien: Altkalkar war früher ein Problemviertel. Dann entwickelten Stadt, Bürger, Kirche und Polizei ein Konzept.

Johannes van der Linde sitzt entspannt draußen vor dem Haus an der Birkenallee und blinzelt in die warme Spätsommersonne. Seit 25 Jahren ist er Hausmeister in Altkalkar, und dieses Viertel Kalkars ist heute ein schönes. Viel Grün, ein neuer Kindergarten, adrette zweigeschossige Häuser. In einer Großstadt wäre Altkalkar wohl, was man eine bevorzugte Lage nennt.

Hausmeister van der Linde kann sich an ganz andere Zeiten erinnern: „Früher war das hier ein ziemliches Problemviertel“, erzählt er. Heute, sagt, van der Linde, ist fast alles gut in Altkalkar. Und das liegt daran, dass die Stadtgesellschaft, die Verwaltung, die Politik und die Polizei vor zwei Jahrzehnten eine erfolgreiche Initiative für Altkalkar gestartet haben.

Rückblende: Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kommen in den neunziger Jahren Hunderttausende Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Etwa 850 von ihnen kommen in Altkalkar unter. Vorher waren dort in 100 Wohnungen amerikanische Nato-Soldaten untergebracht. Zu dieser Zeit gibt es keine Steuerungsinstrumente wie die Wohnsitzauflage oder Integrationsmaßnahmen wie Sprachkurse. Die Folgen sind fatal.

Altkalkar war einmal ein verrufener Stadtteil von Kalkar (hoher Anteil russlanddeutscher und türkischer Zuwanderer inkl. Drogen- und Gewaltkriminalität) hat sich aber in den vergangenen Jahren zum Besseren entwickelt. Die sanierten Wohnblocks aus den 80er Jahren, sind Hinterlassenschaft des Kalten Krieges, hier wohnten damals die Natosoldaten aus den USA.
Altkalkar war einmal ein verrufener Stadtteil von Kalkar (hoher Anteil russlanddeutscher und türkischer Zuwanderer inkl. Drogen- und Gewaltkriminalität) hat sich aber in den vergangenen Jahren zum Besseren entwickelt. Die sanierten Wohnblocks aus den 80er Jahren, sind Hinterlassenschaft des Kalten Krieges, hier wohnten damals die Natosoldaten aus den USA. © Funke Foto Services GmbH | Olaf Fuhrmann

Insbesondere die jungen Zuwanderer fühlen sich fremd in der neuen Heimat, sie kommen nicht klar. Viele der Spätaussiedler stammen aus Kasachstan, wo sie als Deutschstämmige immer heftigeren Ressentiments ausgesetzt waren, in Deutschland gelten sie als Russen, und fühlen sich ausgegrenzt. Viele der Jugendlichen betäuben diese Zerrissenheit mit harten Drogen und Alkohol, es kommt in Altkalkar zu Auseinandersetzungen mit kurdischen Zuwanderern, die sich vor den Spätaussiedlern in dem Stadtteil angesiedelt hatten.

„Aggressive und kriminelle Handlungen“

Es häufen sich „aggressive und kriminelle Handlungen“, wie es spröde in einem Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises „Sicherheitsbeeinträchtigungen für Kalkarer Bürger/innen“ aus dem Jahr 1998 heißt. Messerstechereien, Schüsse in der Nacht. „Das war eine Form von Gewalt, die man hier am Niederrhein nicht gewohnt war“, erinnert sich Andreas Stechling, heute in der Stadtverwaltung Fachbereichsleiter für Bürgerdienste.

In Kalkar wurde der Stadtteil als „Ghetto“ bezeichnet. Die Stadt wurde aktiv und gründete den Arbeitskreis in enger Kooperation mit der Polizei. Polizei und Ordnungsamt liefen gemeinsam Streife, um das Sicherheitsgefühl der Bürger zu verbessern. Heute würde man von einer Sicherheitspartnerschaft sprechen.

NRZ-Schwerpunkt „Kein Problem mit meinem Viertel“

Die Bundesregierung will für gleichwertige Verhältnisse sorgen. Doch welche Hilfe gibt es in den Problemvierteln? Wie gehen die abgehängten Stadtteile mit ihrem angekratzten Image um? In unserem neuen Schwerpunkt „Kein Problem mit meinem Viertel“ widmen wir uns genau diesen Fragen und zeigen auf, warum es Grund zur Hoffnung für die Zukunft gibt. Dafür besuchten wir Viertel wie Duisburg-Hochfeld, Dinslaken-Lohberg oder Alt-Kalkar.

Ohnehin initiierte dieser Arbeitskreis Maßnahmen, die heute zum Einmaleins der Integrationsarbeit gehören. Sprachkurse, Bewerbungstrainings, Job-Initiativen, Einbindung von Vereinen und Kirchen. Und die Stadt stellte einen Sozialarbeiter ein, der noch heute in Altkalkar arbeitet. Peter Holderberg erinnert sich: „Damals waren viele Jugendliche auf der Straße, das war den Bürgern sehr suspekt.“ Also schuf Holderberg niedrigschwellige Angebote, ganz besonders: Sport.

Mit dabei war von Anfang an Irina Helm-Schatilow, selbst Spätaussiedlerin, nach Deutschland gekommen im Jahr 1993, Sport auf Lehramt studiert. „Ich habe die Menschen verstanden, aus dem tiefsten Herzen heraus“, erzählt sie. Und, ganz wichtig, beim Sport gibt es keine sprachliche Barrieren.

Die Sportvereine zogen mit: Kurden, Aussiedler und Deutsche schwitzen gemeinsam

Also schwitzten bald jugendliche Spätaussiedler, Kurden und einheimische Deutsche zusammen. In der Turnhalle, in der Helm-Schatilow eine Volleyball-Truppe gründete, bei Fußballturnieren, die Holderberg organisierte. Die Kalkarer Vereine zogen mit, öffneten sich für die Zuwanderer.

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Dazu kamen Angebote in dem evangelischen Jugendzentrum, das in dieser Zeit in Altkalkar gegründet wurde. „Wir haben einen langen Atem gebraucht, aber wir waren erfolgreich“, sagt Holderberg. Heute betreut er die zweite und dritte Generation. Viele von denen, die früher Problemfälle waren, sind heute Familienväter. „Die achten jetzt sehr auf ihre Kinder.“ Die Arbeitslosenquote im Viertel ist deutlich gesunken, die Kriminalität auch.

Ein Viertel blüht wieder auf: Altkalkar hat wieder Lebensqualität und Zukunft.
Ein Viertel blüht wieder auf: Altkalkar hat wieder Lebensqualität und Zukunft. © Funke Foto Services GmbH | Olaf Fuhrmann

Wie verwurzelt Holderberg und Helm-Schatilow im Viertel sind, zeigt sich bei einem Rundgang. Immer wieder werden sie freundlich begrüßt, es wird gescherzt und gelacht. Die beiden zeigen den neuen Kindergarten, die Freiflächen, auf denen früher marode Häuser standen, die die Stadt gekauft und abgerissen hat, und auf die Gebäude, die saniert wurden. Die Stadt hat das Viertel aufgewertet. Die Birkenallee, früher der Kristallisationspunkt der Gewalt und der Kriminalität, ist heute ansehnlich. „Das ist schon eine Erfolgsgeschichte hier“, sagt Johannes van der Linde, der Hausmeister, der es sich vor einem der Häuser gemütlich gemacht hat.

Kalkars Bürgermeisterin Britta Schulz kennt die Zeiten damals nur aus Geschichten. Aber sie weiß: „Man muss verhindern, dass Menschen mit gleichartigen Problemen an einem Ort zusammengepfercht werden. Probleme entladen sich, wenn die Leute keine Perspektive sehen.“ In der Flüchtlingskrise 2015 hat die Bürgermeisterin entsprechend gehandelt. „Wir haben auf eine dezentrale Unterbringung gesetzt und im Stadtgebiet 65 Wohnungen für Flüchtlinge angemietet.“ Heute muss die Stadt bei ganz anderen Problemen eingreifen. Zum Beispiel dann, wenn der Müll nicht sauber getrennt wird.