Italien. Matthias Maruhn erinnert sich in seiner Kolumne zurück an das Jahr 1969, als durch Woodstock Musik plötzlich wichtiger wurde als Rot-Weiss Essen.

Da habe ich mich aber am letzten Tag im Urlaub in Italien richtig chic gemacht fürs Foto. Nur das Stirnband fehlt. Sonst: Haare und Bart wie aus dem Bilderbuch. Dazu dieser Gammler-Look. Sehr modisch. Nur müsste es statt des Bieres ein Joint sein. Dann wäre es das perfekte Bild einer Zeitreise ins Jahr 1969.

15. August, im Staat New York greift am Abend Richie Havens zur Gitarre und beginnt das dreitägige Konzert, das als Woodstock der Geschichte ein knallbuntes Kapitel schenken wird. Heute vor 50 Jahren. Ich war damals zwölf, in der Quarta und natürlich nicht dabei. Oder – so ein klein bisschen schon. Es war zunächst nur ein Raunen unter den älteren Schulkameraden. Da passiert was Dolles in Amerika. Was Wichtiges. Wir Kleinen spitzten die Ohren. Wir steckten in der Schleuse zwischen Kindheit und Pubertät.

Plötzlich war Musik wichtiger als Rot-Weiss Essen

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Ich hatte doch gerade erst um die Zigarrenkiste mit den kleinen Plastiksoldaten ein Einmachgummi gespannt und sie im Schrank versenkt. Musik war nun wichtiger sogar als Rot-Weiss Essen. Und Woodstock war wie Zunder für diese entflammte Liebe. Fütterte sie mit Namen. Neil Young sang so, wie mein Herz neuerdings schlug, Joe Cocker war mein ganzer Zorn, Santana ließ meinen Körper wie unter Stromschlägen zappeln, als ich Canned Heat hörte, wollte ich sofort meinen Ranzen schnüren und „on the road again.“

Zwei Jahre später bin ich tatsächlich diesem Fernweh erlegen, trampte Richtung Amsterdam, bedachte nicht, dass es im März noch schneien kann, fror eine Nacht bitterlich und kehrte reumütig nach Hause zurück. Eine andere Geschichte.

Die ganze Welt schien aus den Angeln gehoben

Diese wunderschöne, so neue Musik nahm uns wie eine Mutter in den Arm, ohne peinlich zu sein, gab uns Kraft wie ein Vater und flüsterte von der Zukunft wie eine Geliebte. Mehr kannst du in der Pubertät nicht verlangen. Die ganze Welt schien uns damals aus den Angeln gehoben, alles war denkbar. Und wir sahen auf den Fotos aus den USA: Wir sind ja gar nicht allein, wir sind Millionen. Woodstock gab uns die Kraft, uns auf die Suche nach einer besseren Welt zu machen.

Ich wollte jetzt wie die Jungs auf den Fotos sein. Nie wieder zum Frisör. Das erste Barthärchen wurde bejubelt. Wir fuhren auf dem Mofa von Konzert zu Festival. Schlafsack unter dem Arm. Im Sommer 74 trampte ich mit meinem Kumpel Uli quer durch die Schweiz, „Yes“ spielte in Zürich, wir schliefen danach neben der Autobahn im Wald, ein unheimlicher Vogel schrie uns im Morgengrauen ins Ohr, dass wir wie Lots Frau erstarrten. Und wir erzählen uns die Geschichte heute noch als alte Männer und bald auch unseren Enkeln.

Aufgeben gilt nicht

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Frieden und Freiheit sind zwei Ideale, die stets um Woodstock kreisten. Das mit der Freiheit haben wir doch ganz gut hingekriegt. Die Menschen heute hier bei uns sind freier als die jeder Generation zuvor. Minderheiten haben mehr Rechte. Und wir haben die Gewalt aus dem Alltag gedrängt. Kinder werden ohne Schläge erzogen.

Alles so Sachen, die uns 1969 wichtig waren, als wir selbst noch halbe Kinder von der Zukunft träumten. Das mit dem Frieden in der Welt hat nicht geklappt. Das hat viele Gründe. Aufgeben gilt nicht. Und wenn ich jetzt hier so an Woodstock denke, kommen mir auch automatisch Greta und die anderen Blagen in den Sinn. Und ihre Suche nach einer besseren Welt. On the road again…