Allein mit sich und dem Wanderstock in die Berge? Matthias Maruhn berichtet, was er in den Ferien auf der Alm erlebt. Oder auch nicht. Teil 1.
Die Sonne kommt so gegen zehn vor sieben über den Berg. Alle Bewohner unseres gezimmerten Ferienhauses sind schon auf den Beinen. Nicht ungewöhnlich beim Familienurlaub mit vier Dreikäsehochs, Lexi ist vier Monate, Sina ein Jahr, Nicki zweieinhalb und David noch mal ein Jahr älter. Viererbande. Daueralarm.
Jeden Tag streicheln mich tausend Lächeln, jeden Tag wird mein Nervenkostüm durch den Reißwolf gejagt. Ich sitze mit den beiden großen Jungs auf der Terrasse am Steintisch, blicke ins Gasteiner Tal und die Berge ringsum und sage mit etwas tiefer gelegter Stimme, wie es sich für einen Großvater wohl gehört: „Der Opa geht heute mal in die Berge hoch.“
Wo man die völlige Entspannung findet
Die Jungs blicken kurz von ihren Haferflocken hoch, Nicki sagt: Donnerwetter. Nicht aus Hochachtung allerdings, leider, er sagt im Augenblick ständig Donnerwetter. Ein Lieblingswort. Zwei Stunden später gehe ich an der Funderalm vorbei. Ich grüße den Wirt von fern, der gerade die Sonnenschirme aufspannt. Bei mir ist es umgekehrt. Ich suche die völlige Entspannung. Und finde sie im Wald und auf der Weide.
Der Ballast der letzten Wochen fällt ab wie eine ausgebrannte Raketenstufe. Es ist kein großes Geheimnis, aber es ist wahr: Von Zeit zu Zeit muss ein Mensch nur allein mit sich und seinem Wanderstock in die Berge. Hinauf, hinauf, Menschlein. Mit jedem Schritt entfernt er sich von Tand und allem Trallala. Die Luft wird klarer, die Gedanken folgen. Religionen entstehen in Wüsten und auf Bergen. Ich hab so eine Ahnung warum.
Schnurstracks dem Himmel entgegen
Ich strebe also schnurstracks dem Himmel entgegen, verfehle ihn knapp und lande auf der Brandner Hochalm. Und vor einem Schweinestall, dessen Tor offen ist. Eines der Tiere läuft jetzt auf einen Hund zu, beide beschnüffeln sich und wedeln mit dem Schwanz. Sieht bei so einem Schwein etwas merkwürdig aus. Drei Säue haben sich auf Tuchfühlung vor das Tor in die pralle Sonne gelegt wie Touristen am Strand. Sie haben die Augen geschlossen. Sie fühlen sich sauwohl. Das Wort verbindet man sonst gar nicht mehr mit Schweinen. Sauwohl. Man hat nur noch Bilder von leidenden Tieren im Kopf. „Ich ess euch schon lange nicht mehr“, rufe ich dem Quartett zu und beruhige mit dem Satz zehn Minuten später auch die Mädels aus der Kuhherde, die mich auf dem Weg hinauf zum Mooskarl anglotzen. Mein T-Shirt ist kletschnass.
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Aber ich wandere schon so lange allein, dass ich es gegen mein Unterhemd tausche. Ich bin nicht groß modebewusst, aber so im Feinripp am Berg ist sogar mir etwas gewagt. Kaum gedacht, kommt mir ein Pärchen entgegen. Ich sage „Grüß Gott“, die Frau guckt irritiert und antwortet: „Sorry, I don’t speak english.“ Ich muss laut lachen und das tut schon gut.
Viele Menschen sprechen viele Sprachen
Es geht auf die Kleine Scharte zu. 2000 Meter hoch. Das Ende aller Einsamkeit. Eine Gondelstation. Nein, zwei sogar. Viele Menschen sprechen viele Sprachen. Drei Frauen aus Saudi-Arabien stehen vollverschleiert auf einer Plattform, machen Landschafts-Fotos mit dem Handy. Ich frag mich, wem sie die Bilder in zwei Wochen in Riad zeigen. Daneben die Stelzen für die Beschneiungsanlage.
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Ich könnt mich aufregen. Aber darf es nicht. Ich bin 50 Jahre Ski gelaufen. Ich drehe mich noch einmal im Kreis. Dann steige ich ins Tal. Ich bin glücklich und der Gedanke klar. Die vier Herzchen im Holzhaus freuen sich. Ich zeige auf den Berg. Da oben war der Opa, Kinder. Nicki reagiert als erster: Donnerwetter.