Dawood Naseri erzählt von den Gefahren, die er mit seiner Familie in den vergangenen zwei Jahren zwischen Kabul und Wien meistern musste

Mit Flüchtlingen habe ich viele Interviews geführt. Hunderte bestimmt. Das geht mir meist nahe. Wohl auch, weil meine Familie aus Ostpreußen stammt und mir in jungen Jahren Geschichten erzählt wurden, die ich so oder ähnlich später in Bosnien und Ruanda, im Sudan und im Irak gehört habe. Geschichten von Verlust und Angst. Und von Hoffnung. Die Welt der Flucht. Wie aber die Geschichten enden, ob als Tragödie oder mit Happy End, das bleibt viel zu oft im Nebel verborgen.

Große Freude also, als vor einigen Wochen eine Nachricht auf Facebook einbimmelt: „Mohammad winkt dir zu.“ Das war noch eher vage, dann aber: „Jetzt wir sind in Aus­tria. Naseri.“ Alles klar. Im Februar 2017 zierte das Foto der Familie Naseri unsere Seite 1, ein Foto aus einem Flüchtlingsheim in Serbien, dort hatten wir uns getroffen. Jetzt war ich über Pfingsten in Österreich, ein Kumpel heiratete im nahen Bratislava, also bin ich hin nach Sitzenberg, 50 km westlich von Wien.

Taff sind mehrere in dieser Familie. Etwa Farzana, die Mutter, Oder Mudaser (13), der tapfere Älteste. Ich habe mich aber mit Dawood auf die Bank gesetzt. Er Vater, ich Vater. Beide sind wir Journalisten. Ich bewundere zutiefst, wie er das körperlich und seelisch geschafft hat. Zwei Jahre Hölle im Kurzdurchlauf: Er postet im Netz einen Bericht über ein Mädchen, dem die Finger abgeschnitten wurden, damit es nicht zur Schule gehen kann. In Kabul, Afghanistan. Die Taliban schlagen zurück, verletzten Farzana mit dem Messer, schlagen mit dem Gewehrkolben Mudaser auf den Kopf, zertrümmern Dawood die Schulter. Ihr werdet alle sterben, sagen sie. Und der Vater zieht die Konsequenzen: „Ich habe meinen Toyota verkauft, 5000 Dollar, mein Haus 10 000 Dollar. Und los.“ Sie fliehen über den Iran in die Türkei, wandern dann bis zum Mittelmeer. Der Vater trägt das Gepäck und abwechselnd die drei kleineren Kinder. Kilometer für Kilometer. Hunderte. „Schlimm war die Fahrt mit dem Boot. Wasser lief ein. Wir haben mit den Schuhen geschöpft. In Todesangst. Keiner von uns kann schwimmen.“ In Mazedonien drohen die Schlepper, die Kleinen zurückzulassen, wenn eines schreit. Sie begegnen einem Bären in den Bergen. In Ungarn kollabiert Mudaser, alles zu viel für einen Jungen. Der Vater kämpft, er schützt, er leidet am Leid der Familie.

Jetzt sind sie in Österreich. Was bedeutet das? Dawood legt seine rechte Hand aufs Herz. Das Ende der Angst. Hoffnung. Die Kinder gehen zur Schule, drei spielen Fußball im Verein, auch Agdas, die Tochter. Die Eltern lernen Deutsch bei Ehrenamtlern, es gibt wieder Nachbarn, die lächeln. Dawood will als Kfz-Mechaniker arbeiten, Farzana wie in Kabul im Kindergarten. Die Erlaubnis der Behörden auf längeren Aufenthalt steht allerdings noch aus. Und wenn nicht? „Afghanistan? Sie würden uns töten.“ Also alles richtig gemacht? Ja. Dawood lehnt sich zurück. Er ist ein tief erschöpfter Mann. Ich weiß nicht, ob er stolz ist. Er hätte jedes Recht dazu. Er hat seine Familie gerettet.