München. Vor fünf Jahren diagnostizierte Camilla Rothe Deutschlands ersten Corona-Fall. Manches, was dann passierte, versteht sie bis heute nicht.
- Vor genau fünf Jahren wird der erste Corona-Fall in Deutschland festgestellt
- Die Ärztin Camilla Rothe behandelte „Patient eins“
- Einige Reaktionen machen sie noch heute fassungslos
Als Dr. Camilla Rothe am Montag, den 27. Januar 2020, früh zur Arbeit ging, schien es ein ganz normaler Start in die Woche zu werden. Am Abend war klar: Es war ein Tag, der in Deutschland Geschichte schreiben sollte. An diesem Tag diagnostizierte die Ambulanzleiterin am Münchner Tropeninstitut gemeinsam mit ihrem Team und dem Labor am Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr Deutschlands ersten Corona-Patienten.
Ihre Warnungen bezüglich des Virus wurden zunächst ignoriert. Später erhielt sie für ihre Arbeit das Bundesverdienstkreuz. Ein Rückblick der Ärztin auf eine Zeit, die vieles veränderte, die sie teils fassungslos machte, sie aber gleichzeitig hoffnungsvoll nach vorne blicken lässt.
Frau Rothe, „Patient eins“ war ein damals 33 Jahre alter Mitarbeiter des bayerischen Autozulieferers Webasto. Hatten Sie bei seiner Untersuchung vor fünf Jahren bereits ein komisches Bauchgefühl?
Camilla Rothe: Überhaupt nicht. Der Mann hatte in der Vorwoche mit einer völlig gesund wirkenden chinesischen Kollegin an einem Firmenseminar teilgenommen. Diese war ohne Probleme über die halbe Welt gereist, erinnerte sich lediglich an ein Gefühl von Jetlag. Tage später und zurück in China wurde sie krank. Informierte Webasto über ihren positiven Test auf Corona, wie wir es später nennen sollten. Der Mann war am Wochenende krank gewesen, hatte Erkältungssymptome – mitten in der Grippe-Saison. Er fühlte sich aber bereits besser. Da seine Frau schwanger war und er ein kleines Kind hatte, machte er sich dennoch Gedanken, wollte auf Nummer sicher gehen. Mein Plan war lediglich, ihm die Angst zu nehmen.
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Erster Corona-Fall in Deutschland: Ärztin hielt es erst nicht für möglich
Hatten Sie es für möglich gehalten, dass der Mann tatsächlich mit dem damals neuartigen Sars-Virus infiziert ist?
Rothe: Ehrlich gesagt, nein. Und das gleich aus drei Gründen: Erstens war er nicht ernsthaft krank. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt nur Bilder aus China von schwer kranken Menschen an Beatmungsmaschinen vor Augen. Dennoch kam er zur Sicherheit außerhalb der Sprechstunde, und ich trug Schutzkleidung. Das Zweite, was nicht passte, war, dass die chinesische Kollegin in Deutschland zumindest augenscheinlich völlig asymptomatisch gewesen war.
Kein Husten, kein Schnupfen, keine Heiserkeit. Nichts war den Kollegen aufgefallen. Dass jemand die Infektion weitergibt, der keine Symptome hat, passte damals nicht zur Lehrmeinung. Drittens stammte die Besucherin aus Shanghai, was damals nicht als Risikoregion galt. Erst später haben wir erfahren, dass sich die Dame bei ihren Eltern aus Wuhan angesteckt hatte, die zu Besuch kamen. Daran hat man gesehen, welche Dynamik diese Infektionsketten annehmen.
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Erinnern Sie sich noch an den Moment, als Sie vom Ergebnis des Abstrichs von „Patient eins“ erfahren haben?
Rothe: Oh ja. Sogar sehr gut. Das war um 19.00 Uhr. Da war ich schon zu Hause. Allein. Mein Partner war beruflich unterwegs, als ich den Anruf aus der Mikrobiologie bekam. Und das positive Ergebnis war natürlich ein ganz schöner Knaller. Ein Schock in mehrerlei Hinsicht.
Was ging Ihnen durch Kopf?
Rothe: Zunächst war ich im positiven Sinne überrascht, dass mein erster Patient mit Symptomen einer banalen Erkältungskrankheit dieses neue Virus haben sollte. Bei all den schrecklichen Bildern, die wir aus China gesehen hatten, verspürte ich hier regelrecht etwas Erleichterung. Die neue Virusinfektion konnte offensichtlich auch harmloser verlaufen. Das war die gute Nachricht.
Gleichzeitig haben bei mir die Alarmglocken ganz laut geläutet, nach dem, was der Patient über seine chinesische Kollegin berichtet hatte: keinerlei Symptome, fit genug, ein Seminar zu halten und für einen Langstreckenflug. Sie konnte mit Virus im Körper um die ganze Welt reisen, es unbemerkt weiterverbreiten. Das war alarmierend. Mir war klar: Das ist eine Bedrohung für die öffentliche Gesundheit.
Kritik an Ärztin – Klare Botschaft zunächst ignoriert
Ihre Beobachtung und Besorgnis teilten Sie auch mit der Fachwelt. Doch Ihr Bericht, dass auch asymptomatische Menschen bereits ansteckend sind, stieß zunächst auf Gegenwehr – auch seitens RKI und WHO. Wie ging es Ihnen damit?
Rothe: Ich muss ehrlich sagen, ich habe das bis heute nicht verstanden. Die Botschaft war für mich klar. Es hat mich fassungslos gemacht, dass ich das nicht allen Menschen vermitteln konnte. Das Positive für mich war, dass es aus dem Umfeld der Infektiologen – der Menschen, die mit Infektionskrankheiten und Patienten arbeiten – keine Zweifel an meinem Bericht gab. Sie waren dankbar für meine Warnung, dass sie sich schützen müssen, auch wenn Patienten keine Symptome zeigen, sich nicht krank fühlen.
Die Kritik war, dass ich zunächst nicht selbst mit der betroffenen Kollegin aus China gesprochen hatte. Das hatte aber die Bayerische Gesundheitsbehörde getan. Gemeinsam mit den Informationen der Webasto-Mitarbeiter war uns das damals genug und das ist mir bis heute genug.
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Können Sie sich die Reaktionen mit etwas Abstand erklären?
Rothe: In der Wissenschaft sind wir zu Recht kritisch. Das ist wichtig. Aber hier hat man sich in meinen Augen an Feinheiten aufgehängt und so möglicherweise wertvolle Zeit verloren. Ich hätte mir einen persönlichen Anruf gewünscht, von denjenigen, die meine Aussage hinterfragen. Das ist nicht passiert. Wir Menschen tendieren dazu, Dingen eher Glauben zu schenken, die unsere Erwartung widerspiegeln. Und die Erwartung war, dass sich das neue Virus, genau wie das alte, nur mit Symptomen überträgt.
Zusätzlich glauben wir eher die Dinge, mit denen wir einfacher umgehen können. Eine asymptomatische Übertragung bedeutete schlicht eine ganz andere Dimension der Viruseindämmung. Und genau die haben wir dann erlebt: die Konsequenz waren letztlich Lockdowns, die universelle Maskenpflicht, Test- und Impfzentren. Das war sicherlich auch politisch eine sehr unbequeme Erkenntnis.
Pandemie und Lockdown: Das half Dr. Camilla Rothe durch die schwere Zeit
Und eine anstrengende Zeit für alle. Wie haben Sie selbst die Pandemie erlebt?
Rothe: Ich war dankbar, dass ich zur Arbeit gehen konnte, dass wir am Tropeninstitut eine der ersten Teststationen hatten, dass wir in die Altenheime gegangen sind. Dass ich mithelfen konnte, war wirklich gut. Schwierig für mich persönlich, das gebe ich zu, war diese mediale Aufmerksamkeit, die ich nicht gewohnt war. Das brauche und will ich nicht mehr – insbesondere die Hasskommentare im Netz und teils sehr despektierliche E-Mails. Das war wirklich unschön. Aber ich habe neben einer neuen Sprache auch gelernt, dass man zu Hause gut Sport treiben kann. Das war mein Ausgleich. Und ich habe gelernt, mich abzuschotten und stelle mein Telefon öfters auf „Bitte nicht stören“.
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Wie hoch ist das Risiko, dass wir in nächster Zeit noch einmal pandemische Zustände erleben?
Rothe: Das Risiko ist sehr groß. Das muss man ganz klar sagen. Schauen Sie sich allein die Ausbreitung von MPox an, die zwischen der letzten Pandemie und unserem Gespräch liegt. Die Erklärung dafür ist einfach. Die Weltbevölkerung wächst stetig. Gleichzeitig wohnen wir immer enger zusammen, was Übertragungen begünstigt. Wir sind extrem vernetzt. Jedes Virus ist potenziell binnen Stunden, maximal zwei Tagen an jedem beliebigen Ort der Welt.
Wir sind selber eine invasive Art. Wir dringen in die Lebensräume von Tieren und Pflanzen ein, die Krankheitserreger haben können, die wir dann wiederum in unsere globalisierte Welt tragen. Zusätzlich verändern wir das Klima. Und höhere Temperaturen begünstigen genau wie extreme Wetterereignisse das Auftreten bestimmter Seuchen.
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Künftige Pandemien: Ärztin hat gemischte Gefühle mit Blick in die Zukunft
Wenn es nochmal so weit kommt, wären wir besser vorbereitet?
Rothe: Eine Pandemie erfordert, dass wir international zusammenarbeiten, unabhängig von unserer politischen Couleur. Die USA sind nun aus der Weltgesundheitsorganisation ausgetreten. Das ist extrem ungünstig im Sinne einer Pandemiebekämpfung. Noch immer gibt es in vielen Ländern der Welt ein sehr schwaches öffentliches Gesundheitssystem. Auch das ist sicherlich problematisch. Aber es gibt auch vieles, das wir während der Pandemie gelernt haben.
Was wäre das? Machen Sie uns etwas Mut.
Rothe: Es wurden viele Institutionen gegründet, die sich allein mit Pandemiebekämpfung befassen. Die Digitalisierung schreitet weiter fort. KI wird helfen. Wir sind innerhalb der Fachrichtungen besser vernetzt. Und wir wissen sehr viel besser, was zu tun ist: Wir müssen klarer mit der Öffentlichkeit kommunizieren, wir brauchen Schutzkleidung und Schnelltests, müssen von internationalen Lieferketten unabhängig werden. Und ganz wichtig: Wir brauchen ganz schnell einen Impfstoff. Aber das ist uns ja bei Corona schon sehr, sehr gut gelungen. Das ist für mich auch eines der Highlights der Pandemie, wenn man das so sagen kann.