Essen. Gentle Parenting und bedürfnisorientierte Erziehung – unter „Momfluencern“ verbreitete Begriffe. Doch was steckt dahinter? Eine Expertin erklärt.
- Junge Eltern setzen immer häufiger auf „Gentle Parenting“
- Aber was für Vorteile hat bedürfnisorientierte Erziehung? Und gibt es Nachteile?
- Eine Kindheitspädagogin ordnet ein
In kurzen Clips auf Instagram und TikTok nehmen Eltern ihre Zuschauerinnen und Zuschauer mit in den Alltag mit Kindern. Meist junge Mütter erzählen von Interaktionen oder holen ihre Kinder sogar vor die Kamera. Immer häufiger geht es in solchen Kurzvideos auch um den Erziehungsstil: In den sozialen Medien erzieht man bedürfnisorientiert und sanft.
Unter Hashtags wie #bedürfnisorientierteerziehung oder #gentleparenting (übersetzt: Sanfte Elternschaft) berichten Eltern, wie sie den Wutanfall eines Kindes begleiten, sich selbst nach einer überzogenen Reaktion ihrerseits entschuldigen oder von Fortschritten ihres Kindes, das seine Gefühle plötzlich selbst erkennt und benennt. In diesem Gespräch erklärt eine Expertin, wie der Erziehungsstil funktioniert.
Gentle Parenting: Junge Mütter berichten in den sozialen Medien aus ihrem Alltag
Das Gesicht des Trends: Marlies Johanna. Die zweifache Mutter postet seit 2022 über ihre Elternschaft. Die Kamera auf sich gerichtet, zeichnet sie Momente auf, in denen sie mit ihren Kindern Kompromisse zwischen deren und ihren eigenen Bedürfnissen aushandelt. Dafür lässt sie ihre Kinder an ihren Gedanken und Gefühlen teilhaben. Möchte ihr Kind nach dem Basteln lieber spielen anstatt aufzuräumen, erklärt sie ihm, warum sie es vorzieht, wenn das Kind ihr zuerst beim Schnipsel wegräumen hilft – und geht auf sein Spielbedürfnis ein, indem sie das Aufräumen zum Spiel macht.
Kommentare unter den Videos reichen von begeistertem Zuspruch bis hin zu Prophezeiungen, die der Familie voraussagen, in Zukunft endlose Diskussionen zu führen, oder dem Kind, dass es im „echten Leben“ ohne die Unterstützung seiner Mutter fortan nicht klarkommen würde.
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Bedürfnisorientierte Erziehung ermöglicht Kindern, zu lernen
Kindheitspädagogin Christina Schwer sieht dagegen eine Reihe von Vorteilen des Erziehungsstils: „Um eine sichere Bindung zum Kind herzustellen, müssen Erwachsene feinfühlig sein, die Emotionen und Bedürfnisse des Kindes wahrnehmen und auf diese eingehen.“
Eine sichere Bindung ermögliche dem Kind überhaupt erst, seine Umgebung stressfrei zu erforschen und zu lernen. Andernfalls könnte das Kind zwar weiterhin erforschen, weil es aber lernen musste, ohne eine sichere Bindung klarzukommen, stünde es dann unter Stress. „Das ist alles andere als ideal“, so Schwer.
Kleinkinder können mit ihren Emotionen allein noch nicht umgehen
Ein wichtiger Aspekt der bedürfnisorientierten Erziehung sei die Emotionsregulation. Denn darum ginge es im Kern: Ein Bedürfnis zeige sich meist durch Emotionen – häufig durch Wut – an. Neugeborene seien darauf angewiesen, dass ihre Eltern oder andere Bezugspersonen diese Emotionen regulieren, also abschwächen oder in eine andere Richtung lenken. Selbst können sie das noch nicht. „Gerade bei Neugeborenen ist es daher wichtig, möglichst prompt und angemessen zu handeln“, sagt Schwer.
Nach ein paar Wochen oder Monaten hat der Säugling dann zumindest ein Erwartungsmodell daran entwickelt, dass seine Emotionen von den Eltern reguliert werden. Wenn er anfängt zu schreien oder zu weinen, weiß er also, dass er gleich hochgenommen, getröstet, gefüttert oder gewickelt wird. Diese Erwartung reguliert bereits einen Teil der Emotionen.
„Bei Kleinkindern sehen wir das dann deutlicher, dass sie anfangen, ihre eigenen Emotionen zu regulieren“, sagt die Kindheitspädagogin. Fällt ein Kind bei den ersten Laufübungen hin und reibt sich das Knie, dann sei das schon eine Form der Emotionsregulation.
Die bedürfnisorientierte Erziehung unterstütze diesen Prozess. Indem die Eltern die Gefühle des Kindes immer wieder erkennen und benennen, helfen sie ihm, diese Emotionen früher oder später selbst zu erkennen und regulieren. Bedürfnisorientiert erziehen bedeutet dann auch, sich als Eltern langsam zurückzuziehen, das Tempo des Kindes zu achten und wo nötig unterstützend zu regulieren.
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Bedürfnisorientierte Erziehung verhilft dem Kind zu Autonomie
Aber die bedürfnisorientierte Erziehung dreht sich längst nicht nur um die Gefühle und Bedürfnisse des Kindes. Um diesem die Emotionsregulation beizubringen, ist es wichtig, dass Eltern auch ihre eigenen Gefühle offen zeigen und benennen. „Positive Emotionalität“ nennt Christina Schwer das.
Indem Eltern das Kind loben, anlächeln, sich mit ihm freuen oder es in Momenten der Wut und Trauer trösten und beruhigen, gehen sie auf seine mentalen Zustände ein – wodurch das Kind schließlich lernt, diese mentalen Zustände selbst zu erkennen. Es erfährt so, was es fühlen, sich wünschen, gut oder schlecht finden kann.
Auf diese Weise könne das Kind unabhängig im Denken und Fühlen werden, so die Kindheitspädagogin. So fördere bedürfnisorientierte Erziehung neben der Lernfähigkeit und der Emotionsregulation auch die Autonomieentwicklung.
Zu viel Bedürfnisorientierung kann das Kind überfordern
Wie Christina Schwer dieser Redaktion im Gespräch erzählt hat, müssen Eltern bei der bedürfnisorientierten Erziehung „feinfühlig austarieren“. Denn sonst könnten einige dieser positiven Effekte sich ins Negative wandeln – aus einer gesunden Autonomie würde dann mangelnde Sozialkompetenz, aus Emotionsregulation eingeschränkte Handlungsfähigkeit und aus der Wahl die Qual, oder besser: Überforderung.
Demnach sollten Eltern zwar versuchen, auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen, zugleich aber flexibel bleiben. Steht das Kind in der Eisdiele vor 20 verschiedenen Eissorten, so könnte die freie Wahl es schnell überfordern. „Dann können Eltern die Wahl einschränken: Statt allen 20 Eissorten können sie eine kleinere Auswahl vorgeben“, rät Schwer. So vermeiden sie, dass sich das Kind überfordert fühlt.
Mangelnde Sozialkompetenz durch zu viel Bedürfnisorientierung
Ein anderer Nachteil könnte dem Nachwuchs entstehen, wenn ihnen im Elternhaus vermittelt wird, dass es nur um ihre Bedürfnisse geht. Dann verlernen sie, mit anderen zu kooperieren und die Sozialkompetenz leidet. „Kinder müssen lernen, die Perspektiven von anderen Menschen zu betrachten“, so Schwer.
Das geschehe im Idealfall bereits in der Beziehung mit den Eltern. Aber spätestens im Kontakt mit Gleichaltrigen kämen Kinder wohl nicht umhin, es zu lernen: Selbst wenn zwei Kinder, die bedürfnisorientiert erzogen werden, aufeinandertreffen, wird das eine dem anderen wohl schon bald klar sagen, was es möchte.
Bedürfnisorientierte Erziehung: Das Kind auch mal alleine lassen
Das, was Schwer als „positive Emotionalität“ benennt und als Kern der bedürfnisorientierten Erziehung dient, kann ebenfalls nach hinten losgehen: Indem Kinder sich zu sehr auf Reaktionen und das Lob ihrer Eltern verlassen, könnten eigene Handlungspläne leiden. Dann kämen diese nur noch mit Zuspruch der Eltern in Gang.
Um die Handlungsfähigkeit des Kindes im Rahmen der bedürfnisorientierten Erziehung zu fördern, rät Schwer, „es auch mal alleine machen zu lassen“. Spielt das Kind alleine, so hat es den Raum, Handlungspläne für sich zu entwickeln und umzusetzen – ganz ohne die Eltern.
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