Essen. Auf Social Media erziehen junge Eltern vorzugsweise bedürfnisorientiert. Was das bedeutet und wie es funktionieren kann, erklärt eine Expertin.
- Bedürfnisorientierte Erziehung oder „Gentle Parenting“ ist in den sozialen Medien populär
- Dabei erkennen Eltern die Bedürfnisse und Emotionen des Kindes feinfühlig an
- Eine Kindheitspädagogin gibt Tipps, wie Eltern bedürfnisorientierte Erziehung im Alltag umsetzen
Junge Eltern werben in den sozialen Medien unter Hashtags wie #bedürfnisorientierteerziehung und #gentleparenting vermehrt für einen Erziehungsstil, bei dem die Bedürfnisse des Kindes im Fokus stehen: Die Eltern erkennen diese, ordnen sie ein und erfüllen sie oder finden Kompromisse.
Professorin Christina Schwer ist Kindheitspädagogin. An der Europäischen Fachhochschule leitet sie den gleichnamigen, dualen Studiengang. Sie weiß: Bedürfnisorientierung ist die Grundlage jeder guten Erziehung. „Elternschaft muss die Bedürfnisse des Kindes befriedigen, sonst würden die Kinder vernachlässigt“, sagt sie. Wenn das Kind etwa Hunger hat, ist es auf die Unterstützung seiner Eltern angewiesen.
Was den aktuellen Trend von diesem Beispiel abhebt: Anstatt lediglich auf die elementaren Bedürfnisse, gehen die TikTok-Eltern auf alle Bedürfnisse ihres Kindes ein. Hat es einen Wutausbruch im Supermarkt, weil es die Lieblingsschokolade nicht bekommt, dann kriegt es die Schokolade zwar trotzdem nicht, die Eltern erkennen aber sein Bedürfnis und seine Emotion an, bringen ihm Verständnis entgegen und erklären sich. Das kann in etwa so aussehen: „Ich kaufe das nicht, weil wir noch Schokolade zuhause haben. Ich verstehe, dass dich das wütend macht und tröste dich.“
Kindheitspädagogin Christina Schwer hat einige grundlegende Fragen zu bedürfnisorientierter Erziehung geklärt. Hier spricht sie außerdem über die Vor- und Nachteile des Erziehungsstils.
Wie erkennen Eltern die Bedürfnisse ihres Kindes?
Christina Schwer zufolge äußern sich Bedürfnisse häufig durch Emotionen wie Wut. Die Emotion mache dann deutlich, dass das Kind ein Bedürfnis hat, das bisher nicht befriedigt wurde. Auch wenn sich Kinder den Eltern körperlich nähern oder beispielsweise weinen, sei das ein Zeichen dafür, dass das Kind Nähe und Trost sucht.
„Feinfühlige Eltern merken das meist ganz intuitiv“, sagt Schwer. Häufig brauche es gar nicht viel Reflektion, weil Eltern ihr Kind ohnehin in den Arm nehmen, wenn es weint oder seiner Wut auf den Grund gehen, wenn es schreit.
Wie gehen Eltern auf das Bedürfnis des Kindes ein?
Bei der bedürfnisorientierten Erziehung ginge es im Grunde um Emotionsregulation. Die Eltern oder Erziehungspersonen seien, besonders bei Neugeborenen und jungen Kleinkindern, für die Emotionsregulation zuständig – sie schwächen also unangenehme Gefühle, die das Kind spürt, oder lenken sie in eine andere Richtung.
„Das ist nicht für immer Aufgabe der Eltern“, sagt Schwer. Irgendwann seien Kinder in der Lage, sich selbst zu regulieren. Während Vorschulkinder noch die Anleitung der Bezugsperson brauchen, könne ein Schulkind bereits besser an sich selbst appellieren.
Die Emotionsregulation von Eltern für Kinder kann – je nach zugrundeliegendem Gefühl – unterschiedlich aussehen: Häufig beschäftigt sie sich mit physischen Bedürfnissen des Kindes wie Hunger, Durst oder Schmerz. Wenn diese Bedürfnisse gestillt sind, ist es die Emotion unter Umständen auch schon. Bei einem Wutanfall widmen sich Eltern dagegen dem mentalen Zustand. In der bedürfnisorientierten Erziehung tun sie das, indem sie dem Kind Verständnis entgegen bringen, seine Emotion benennen („Ich sehe, dass du wütend bist“) und es trösten, indem sie es womöglich in den Arm nehmen. „Die Emotionen auf diese Art zu begleiten, hilft dem Kind, sie früher oder später selbst zu benennen und regulieren“, weiß Schwer.
Bis zu welchem Alter sollten Eltern die Emotionen ihres Kindes begleiten?
Im Laufe seiner Entwicklung übernimmt das Kind die Emotionsregulation Schritt für Schritt selbst. Wann es mit seinen Gefühlen selbst umgehen kann, variiert je nach Mensch und Situation. „Generell empfiehlt sich in der bedürfnisorientierten Erziehung, nach dem Tempo der Kinder zu gehen“, rät Schwer.
Das Kind zeige schon, wenn es eine Emotion selbst regulieren kann. „Sitzt ein Kind auf dem Schoß einer Bezugsperson, weil es gerade hingefallen ist und getröstet werden möchte, sollte man das Trösten nicht zu schnell abbrechen“, erklärt die Kindheitspädagogin. Stattdessen sollten Eltern geduldig sein. Das Kind mache sich bemerkbar, wenn es genug hat.
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Wie setze ich bedürfnisorientierte Erziehung im stressigen Alltag um?
Wenn das Kind bereits im Supermarkt auf dem Boden liegt und schreit, fällt es vielen Eltern schwer, ruhig zu bleiben und die Emotionen des Nachwuchses feinfühlig zu begleiten. „Man sollte sich auf solche Situationen vorbereiten“, sagt Schwer. Schließlich kämen sie meist nicht völlig überraschend, sondern man erlebe sie mehrmals.
Man könne dem Kind beispielsweise schon auf dem Weg zum Supermarkt einen Plan mitteilen: „Wir packen die Zutaten für‘s Abendessen in den Einkaufswagen und du darfst dir einen Joghurt aussuchen, dabei bleibt es“, könnten Eltern etwa sagen. So ist das Kind schon auf dem Weg durch die automatischen Schiebetüren fokussiert. Auch das Szenario des Wutausbruchs im Supermarkt könnten Eltern vorher durchspielen: Wie möchten sie reagieren? Wie könnten sie die Gefühle ihres Kindes an Ort und Stelle begleiten? „Kommen ähnliche Konflikte immer wieder vor, lohnt es sich, sie mit dem Kind zu besprechen“, so Schwer.
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Sollten Eltern ihre eigenen Bedürfnisse in der bedürfnisorientierten Erziehung zurückstellen?
In Kommentaren unter TikTok- und Instagram-Videos zu bedürfnisorientierter Erziehung herrscht häufig der Eindruck, Eltern würden die Bedürfnisse der Kinder zu sehr in den Vordergrund und ihre eigenen zurückstellen. Kindheitspädagogin Schwer hält das für einen Trugschluss: Bei der bedürfnisorientierten Erziehung ginge es gerade darum, die eigenen Bedürfnisse klar zu formulieren. Es sei wichtig, zu sagen: „Wenn du mich beißt, ärgert mich das, ich möchte das nicht.“ Ansonsten könnte das Kind eine mangelnde Sozialkompetenz entwickeln.
Auch der offene Umgang mit Emotionen sei wichtig: „Wenn die Eltern ihre eigenen Emotionen gut regulieren können, gucken sich die Kinder das ab“, so die Studiengangsleiterin. Nur indem Eltern authentisch mit Ärger, Wut, Trauer oder Freude reagieren, könnten Kinder die Emotionen kennenlernen. Diese Authentizität sollte natürlich gerade im Umgang mit Kindern Grenzen haben: „Beim Zeigen von Wut und Ärger sollten Eltern nur so weit gehen, dass die sichere Bindung nicht gefährdet wird.“
Im Klartext bedeutet das: Wenn Kinder Angst bekommen, ist es eigentlich schon zu spät. „Eltern sollten sich möglichst vorher bremsen“, sagt Schwer. Auch Trauer und Traurigkeit sollten nur über einen begrenzten Zeitraum offen mit Kindern geteilt werden. Werden sie chronisch, dann könnten sie sich von einer Emotion zu einer Stimmung wandeln, die die Familie negativ beeinflusst. „Traurige Stimmungen über einen langen Zeitraum sind Gift für kindliche Entwicklung.“
Wie lösen Eltern bedürfnisorientiert Konflikte?
Konflikte entstehen häufig, weil unterschiedliche Bedürfnisse aufeinander treffen. Nun ist es aber so, dass die Bedürfnisse des Kindes und die der Eltern oder anderer Familienmitglieder oft nicht übereinstimmen. Eltern sollten dann schauen: Was prallt hier aufeinander? „Erwachsene sind in vielen Situationen im Umgang mit Kindern in einer Führungsrolle“, so Schwer. „Sie haben den Überblick über die verschiedenen Bedürfnisse in der Familie, die junge Kinder noch nicht haben können.“
Sie seien also gefragt, die Bedürfnisse der Familienmitglieder miteinander zu verbinden. Im Idealfall sollte dabei niemand dauerhaft zu kurz kommen. Schritt für Schritt, nacheinander oder parallel sollten die verschiedenen Bedürfnisse befriedigt werden – und der Konflikt so gelöst. Merken Eltern schon frühzeitig, dass sich Interessenskonflikte anbahnen, könnten sie diesen auf die gleiche Weise aus dem Weg gehen.
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