Berlin. Knapp sieben Stunden ringt der Bundestag um das umstrittene Asylgesetz der Union. Am Ende steht die Politik vor einem Scherbenhaufen.
Es ist ein Tag, der in die Geschichte eingehen wird – als Tag, an dem offensichtlich wird, wie schwer sich die politische Mitte tut, einen gemeinsamen Kurs gegen die extremen Rechten zu finden. Krisengespräche, Sondersitzungen und immer wieder neue Wendungen. Und das alles, weil Friedrich Merz drei Wochen vor der Wahl im Hauruck-Verfahren eine schärfere Asylpolitik durchsetzen wollte.
Am Ende stimmt die Mehrheit des Parlaments gegen den Unionsantrag. Merz steht vor dem Scherbenhaufen seiner „All in“-Strategie in der Asylpolitik. Der CDU-Mann konnte zum Schluss nur noch verlieren – politisch, weil er aufs Neue die Zustimmung der AfD in Kauf nahm. Rechnerisch, weil 12 Stimmen aus den eigenen Reihen fehlten – und sogar 23 bei der FDP. Und schließlich auch deshalb, weil SPD und Grüne nicht bereit waren, ihm die Kohlen aus dem Feuer zu holen.
Von „wilden Zeiten“ ist auf den Gängen des Bundestags die Rede. „Crazy“ nennt jemand den Tag. Um 10 Uhr am Freitagmorgen sieht es kurz nach einer schnellen Lösung für die festgefahrene Lage aus. Die FDP findet einen Ausweg, den Merz nicht fand – weil er ihn nicht finden wollte. Die Entscheidung über seinen umstrittenen Gesetzentwurf zur Migration („Zustrombegrenzungsgesetz“), der seit Tagen droht mit den Stimmen der AfD beschlossen zu werden, soll auf Vorschlag der FDP in den Innenausschuss verwiesen und damit praktisch vertagt werden. Die FDP hätte Merz mit diesem Schritt davor bewahrt, ein zweites Mal vor der Bundestagswahl einen Tabubruch zu begehen.
- Aktuelles: Die wichtigsten News zur Bundestagswahl 2025 im Blog
- Nach Aschaffenburg: Hitzige Debatte im Bundestag zu Migrationsantrag
- Kommentar: In der Migrationsdebatte kreist die Politik um sich selbst
- Brandmauer: Merz-Manöver: Rückt die SPD jetzt von einer großen Koalition ab?
- Interaktiv: Umfragen und Ergebnisse zur Bundestagswahl
In der Union reagieren zunächst viele mit Erleichterung auf die Idee. Das Manöver der FDP „verhilft uns, noch mal unter Erwachsenen zu sprechen“, sagt einer. Also ohne die extremen Rechten. Die SPD hatte ebenfalls schnell ihren Willen zur Kooperation signalisiert. „Es wäre gut, wenn auch die Union zur Einsicht kommt, dass man mit der AfD niemals wieder kooperieren darf. Die Brandmauer muss wieder hochgezogen werden“, sagt Fraktionschef Rolf Mützenich.
Merz möchte nicht auf den FDP-Vorschlag eingehen
Doch Merz stellt sich quer. Er will nicht auf den FDP-Vorschlag eingehen. In einer Krisensitzung der Unionsfraktion erklärt der Kanzlerkandidat der Union: Er habe ausgelotet, ob SPD und Grüne bereit seien, im Gegenzug seine Vorschläge für eine härtere Migrationspolitik mitzutragen. Nach den Gesprächen mit den beiden Parteien sei klar, es werde in dieser Wahlperiode mit der Rest-Ampel keinerlei Gespräche mehr geben zu Maßnahmen in der Migrationspolitik.
„Wir müssen heute entscheiden“, sagte Merz laut Teilnehmerangaben. Deshalb werde es die Abstimmung über das „Zustrombegrenzungsgesetz“ geben. „Es liegt an uns“, sagt Merz – und erntet langen Applaus.
Nun zieht auch die FDP ihren Vorschlag wieder zurück. Alles auf Anfang. Neue Krisenrunden. Die Sitzung wird auf unbestimmte Zeit unterbrochen. Merz verhandelt hinter verschlossenen Türen mit den Fraktionschefs von FDP, SPD und Grünen.
Erst um 14 Uhr geht es im Plenum weiter. „Kehren Sie um!“, ruft Mützenich in Richtung Merz. „Das wäre das Beste für unser Land.“ Merz solle sich dafür entschuldigen, dass er seinen Antrag zur Migrationspolitik am vergangenen Mittwoch mit den Stimmen der AfD zur Mehrheit gebracht habe. „Der Sündenfall wird Sie für immer begleiten. Aber das Tor zur Hölle können wir noch gemeinsam schließen.“
Merz antwortet direkt auf ihn, seine Stimme verrät, wie bewegt er ist. Er verteidigt seinen Gesetzesentwurf. Er bleibe in der Sache „richtig“. „Sind wir uns einig“, fragt Merz in Richtung SPD und Grüne, „dass die Zuwanderung begrenzt werden muss? Ja oder nein?“ Wenn sie das genauso sehen würden, dann müssten sie doch zustimmen. Und mehr Befugnisse für die Bundespolizei? Warum könnten SPD und Grüne da nicht zustimmen? „Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein.“
Wortgefecht zwischen Merz-Vertrautem und Baerbock
Den Vorwurf, er sei ein Steigbügelhalter der AfD, weist Merz empört zurück. „Ich will hier feststellen: Von meiner Partei aus reicht niemand der AfD die Hand.“ Es sei genau umgekehrt: Die AfD wolle die CDU vernichten. Ja, die CDU trage eine wesentliche Mitverantwortung dafür, dass es seit 2017 die AfD im Bundestag gebe. Aber dass die AfD bei der nächsten Wahl doppelt so stark werden könnte, das sei die Schuld der Ampel. Er werde „alles dafür tun, dass diese Partei nicht weiterwächst und dass sie wieder eine Randerscheinung“ der Politik werde.
Kurz darauf eskaliert der Ton: Thorsten Frei, Merz-Vertrauter und Unionsparlamentsgeschäftsführer, wirft Baerbock vor, sie würde nicht nur eine „faktenfreie“ Rede halten, sondern „Lügengeschichten“ über die Verhandlungen über schärfere Migrationsregeln zwischen Ampel und Union im vergangenen Jahr verbreiten. Baerbock reagiert scharf: „Dass Männer, wenn sie nicht mehr weiter wissen, mit dem Wort ‚Lüge‘ um sich werfen“, kenne sie aus dem Kindergarten.
Linke-Chefin Heidi Reichinnek wendet sich schließlich direkt an Merz’ Leute: „Trennt euch von diesem Kanzlerkandidaten. Er zerstört alles, wofür eure Partei stehen will!“
Merz stand zuletzt unter einem gewaltigen öffentlichen Druck: Seit Mittwoch läuft eine massive Anti-CDU-Welle durchs Land. Tausende demonstrierten am Abend vor der Abstimmung vor der Berliner Parteizentrale und in anderen Städten. Der renommierte Publizist Michel Friedman gibt sein Parteibuch zurück, ein breites Bündnis von Künstlern und Schauspielern warnt, die Kirchen sind besorgt, ein Holocaust-Überlebender hat sein Bundesverdienstkreuz zurückgegeben.
Am Donnerstag schaltete sich dann ausgerechnet Ex-Kanzlerin Angela Merkel ein und warf Merz vor, mit Blick auf die AfD sein Wort gebrochen zu haben.
Merz und Union: Der Trend geht leicht nach unten
Das alles mag Merz eingepreist haben. Er weiß den Wunsch der Deutschen nach einer schärferen Migrationspolitik hinter sich. Eines aber muss ihn beunruhigen: Die ersten Umfragen lassen aus Sicht der Union einen problematischen Trend erkennen. Die Leute wollen eine harte Politik, aber nicht mit der AfD. Und: Die Debatte hat Merz bislang nicht genützt, der Trend geht sogar leicht nach unten. Merz und die Union kommen nur noch auf 29 Prozent der Stimmen. Die AfD dagegen bleibt stabil stark.
Friedrich Merz hatte sich am Freitagmorgen mit einem eindringlichen Appell an die eigenen Leute gewandt: „Wir müssen diesen Sturm jetzt aushalten“, sagte der Kanzlerkandidat der Union laut Teilnehmern in der Fraktionssitzung. Mit Blick auf die massiven Proteste gegen die Union ergänzte Merz: „Das haben wir schon öfters erlebt.“
Am Abend gab sich Merz nach außen unerschütterlich: Er halte trotz der Abstimmungsniederlage an seinem asylpolitischen Kurs fest. Mehr noch: Die Union gehe aus diesem Tag gestärkt hervor. Die Leute wüssten jetzt immerhin, wo er stehe: „Der Merz macht das.“