Berlin. Die einen jubeln, die anderen sind entsetzt. CDU-Chef Merz könnte am heutigen Freitag wieder Stimmen der AfD bekommen – für ein echtes Gesetz.

Der mit Stimmen der AfD im Bundestag angenommene Antrag der Union zur Migrationspolitik hat vor allem symbolischen Wert. Dennoch hat das Manöver heftige Diskussionen ausgelöst: Unionsfraktionschef Friedrich Merz erfährt einerseits Zustimmung in Umfragen - und sogar vom rechtspopulistischen ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Andererseits bekommt Merz scharfe Kritik zu hören. Von einem Tabubruch ist die Rede. Das hält den Kanzlerkandidaten der Union nicht davon ab, am Freitag erneut die Stimmen der AfD in Kauf zu nehmen. 

Stimmen AfD und Union am Freitag wieder zusammen?

Die Antwort gibt es ab 10.30 Uhr im Bundestag: Dann will die Union über ihren Gesetzentwurf zur Begrenzung der Migration in Deutschland abstimmen lassen. Das „Zustrombegrenzungsgesetz“ soll unter anderem den Familiennachzug für Flüchtlinge ohne dauerhaftes Aufenthaltsrecht beenden, der Bundespolizei mehr Befugnisse einräumen und die Begrenzung der Migration wieder ausdrücklich als politisches Ziel festlegen. Die Inhalte des Gesetzes sind zum Teil juristisch umstritten. Die Bundespolizei warnt zudem, weitere Aufgaben gar nicht erfüllen zu können.

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Neben FDP und BSW will auch die AfD mitstimmen. SPD und Grüne dagegen denken nicht daran, am Freitag nur deswegen ebenfalls mit der Union zu stimmen, damit CDU und CSU nicht erneut dank der AfD eine Mehrheit erreichen. Für eine Annäherung müsste auch Merz den beiden Parteien inhaltlich entgegenkommen. Das heißt: Die Union müsste dazu bereit sein, ihren Gesetzentwurf zu ändern.

Bundestag - Regierungserklärung
Einmal hat Unionsfraktionschef Friedrich Merz nun schon einen Vorstoß im Bundestag mit Stimmen der AfD durchgebracht. Wagt er dies am Freitag erneut? © DPA Images | Kay Nietfeld

Nach Informationen dieser Redaktion waren Merz und SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich am Donnerstag in Kontakt miteinander – eine Einigung erschien aber unwahrscheinlich. Mützenich hatte Merz zuvor aufgerufen, den Gesetzentwurf zurückzuziehen. Das lehnte der Unionsfraktionschef ab. Merz, so hieß es, werde seinen Kurs weiter „durchziehen“.

Hätte sich der AfD-Triumph verhindern lassen?

Die Mehrheit für den Fünf-Punkte-Plan der Union mit schärferen Migrationsregeln kam durch die Stimmen von CDU/CSU, AfD, FDP und sechs fraktionslosen Abgeordneten zustande. 703 Abgeordnete nahmen an der Abstimmung teil. Davon stimmten 348 mit Ja, 345 votierten dagegen, zehn Parlamentarier enthielten sich. 30 Angehörige des Bundestags stimmten somit gar nicht ab, auch bei wichtigen Sitzungen fehlen immer wieder Parlamentarier – zum Beispiel wegen Krankheit, anderen persönlichen Gründen oder Dienstreisen.

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Meine schwerste Entscheidung

Der längerfristig erkrankte frühere SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert gab seine Stimme ab, obwohl er sich aktuell aus der aktiven Politik zurückgezogen hat. Zumindest rechnerisch hätten SPD und Grüne die Mehrheit für den Merz-Antrag verhindern können, wenn sie in voller Stärke da gewesen wären: Zwei Grüne und sieben Sozialdemokraten gaben ihre Stimme nicht ab. Bei den Grünen gab es zwei Krankheitsfälle. Vonseiten der SPD-Fraktion wurden Krankheit, Geburt eines Kindes und ein Trauerfall als Gründe genannt. Aber auch insgesamt 17 Abgeordnete von CDU/CSU, AfD und FDP nahmen nicht an der Abstimmung teil.

Haben SPD und Grüne einen Gegenvorschlag zu Merz?

Die verbliebenen Ampel-Koalitionspartner wehren sich gegen den Vorwurf, sich einer strikteren Migrationspolitik und schärferen Gesetzen für die innere Sicherheit zu verweigern. Sie verweisen auf gefasste Beschlüsse und fast 44.000 Zurückweisungen an der deutschen Grenze seit Oktober 2023. Zudem ist die Zahl der Asylsuchenden im vergangenen Jahr um ein Drittel gesunken. SPD und Grüne wollen außerdem die Umsetzung der großen EU-Asylreform und ein Paket mit Sicherheitsgesetzen beschließen. Dafür haben sie allerdings keine eigene Mehrheit – und die Union verweigert ihre Zustimmung, da die Reformen nicht weit genug gingen. Dadurch werde nun gar nichts beschlossen, kritisieren SPD und Grüne.

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Wie wird Merz‘ Vorgehen in der Bevölkerung bewertet?

Die Reaktionen reichen von wütendem Protest über große Sorge bis zu lautem Applaus. Verschiedene Bündnisse haben Demonstrationen angekündigt, in den Sozialen Netzwerken ringen Merz-Fans und Merz-Kritiker verbissen um die Deutungshoheit. Das geteilte Bild spiegelt sich auch in den Umfragen: Im aktuellen ZDF-Politbarometer finden es 47 Prozent der Befragten richtig, dass die Union einen Antrag für schärfere Maßnahmen in den Bundestag einbrachte, bei dem sie in Kauf nahm, nur mit den Stimmen der AfD eine Mehrheit zu erhalten. 48 Prozent finden das falsch.

Die Forschungsgruppe Wahlen führte ihre Befragung jedoch von Montag bis Mittwoch durch – und damit zum großen Teil vor der Abstimmung am Mittwochabend. Interessant: Keine der großen Parteien konnte laut Umfrage von der Debatte vor der Abstimmung profitieren. Die Union verlor in der Wählergunst demnach zwar leicht um ein Prozent, lag aber weiter mit 29 Prozent klar vorn. Die AfD kam weiter auf 21 Prozent, die SPD unverändert auf 15 Prozent und die Grünen auf 14 Prozent. Linke (5 Prozent), FDP (4 Prozent) und BSW (4 Prozent) müssten derzeit um den Einzug ins Parlament bangen.

Protesters Gather At CDU Following Passage Of Bundestag Proposal With Far-Right Support
Nach dem Beschluss des Unionsantrags mit Stimmen der AfD versammelten sich Demonstranten vor der CDU-Parteizentrale in Berlin. © Getty Images | Sean Gallup

Fast jeder dritte Befragte hätte Merz gerne als Kanzler, 24 Prozent der Befragten befürworteten Robert Habeck (Grüne). SPD-Kandidat Olaf Scholz kommt in dieser Frage auf 20 Prozent. Spitzt man die K-Frage auf Merz und Scholz allein zu, kommen beide auf 45 Prozent Zustimmung – Scholz legte zuletzt aber drei Prozentpunkte zu, wogegen Merz einen Punkt verlor.

Intern gibt es viele, die Merz‘ Manöver kritisch sehen – am deutlichsten wurden die CDU-Regierungschefs, die mit SPD oder Grünen regieren. Daniel Günther aus Schleswig-Holstein appellierte am Donnerstag auch an die eigene Partei, sich dafür einzusetzen, dass es am Freitag nicht noch einmal zu einem Abstimmungserfolg der AfD komme. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst und der Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner, äußerten sich ähnlich. 

Welche Folgen hat das Merz-Manöver für die Zeit nach der Wahl?

Auf den Koalitionsgesprächen liegt bereits jetzt ein Schatten. In der Union wird – wenn die Wahlergebnisse dafür ausreichen – auf ein Bündnis mit nur einer weiteren Partei gehofft. Dafür kommen auf Grundlage der aktuellen Umfragen außer der AfD nur SPD und Grüne infrage. Eine Koalition mit der AfD lehnt Merz ab, bleiben SPD und Grüne. Die beiden Parteien hat Merz mit seinem Vorgehen in den vergangenen Tagen allerdings geradezu schockiert.

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Sie werfen dem Kanzlerkandidaten der Union nicht nur die Tatsache vor, dass er der AfD mit der gemeinsamen Abstimmung zu einem historischen Triumph verhalf. Auch das Vertrauen der führenden Vertreter von SPD und Grünen in Merz persönlich ist massiv erschüttert, da er erst kürzlich gemeinsame Mehrheiten mit der AfD noch ausgeschlossen hatte. In den beiden Parteien fragt man sich: Kann man Merz als Koalitionspartner und Kanzler überhaupt trauen? Seine Eignung als Kanzler zweifeln Sozialdemokraten und Grüne an. Die Stimmung zwischen der Union auf der einen und SPD und Grünen auf der anderen Seite ist vergiftet. In Koalitionsgesprächen dürfte es zunächst einmal viel Zeit und Kraft kosten, wieder Vertrauen aufzubauen.