Berlin. Der Kanzler hat die Vertrauensfrage beantragt. Die Regierung bleibt aber vorerst im Amt und ist handlungsfähig – mit einer Ausnahme.
Ein Bote des Bundeskanzleramts macht sich am Mittwoch auf den Weg in den Bundestag zum Büro von Parlamentspräsidentin Bärbel Bas. Er hat ein Schreiben von Kanzler Olaf Scholz dabei, mit dem der SPD-Politiker das vorzeitige Ende seiner Amtszeit einleitet. Es ist nur zwei Sätze lang. Die sind jedoch historisch.
„Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin, gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes stelle ich den Antrag, mir das Vertrauen auszusprechen. Ich beabsichtige, vor der Abstimmung am Montag, dem 16. Dezember 2024, hierzu eine Erklärung abzugeben“, schreibt Scholz. Mit „freundlichen Grüßen“ schließt der Kanzler und setzt mit blauer Tinte seine Unterschrift auf das Papier.
Hiermit möchte ich den Weg frei machen für vorgezogene Bundestagswahlen. pic.twitter.com/l92b7Hqi2l
— Bundeskanzler Olaf Scholz (@Bundeskanzler) 11. Dezember 2024
Abstimmung über Vertrauensfrage am Montag
Damit steht fest: Am kommenden Montag stimmen die Abgeordneten des Bundestags in einer Sondersitzung darüber ab, ob Scholz noch ihr Vertrauen genießt. Scholz will die Abstimmung über die Vertrauensfrage verlieren, um Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Auflösung des Bundestags vorzuschlagen.
„Damit möchte ich den Weg frei machen für vorgezogene Bundestagswahlen“, erklärt der Kanzler kurz nach der Veröffentlichung seines Schreibens in einem Statement vor der Presse. „In einer Demokratie sind es die Wählerinnen und Wähler, die den Kurs der künftigen Politik bestimmen. Sie entscheiden bei der Wahl, wie wir die großen Fragen beantworten, die vor uns liegen.“
Scholz: Bundesregierung bleibt voll arbeitsfähig
Das Land befindet sich damit nach dem Bruch der Ampel-Koalition politisch in einer Übergangsphase. Allerdings bleibt Deutschland nicht ohne Regierung: Bundeskanzler Scholz und die Ministerinnen und Minister in seinem Kabinett arbeiten weiter wie bisher. Nach dem Ausscheiden der FDP-Minister Christian Lindner (Finanzen), Marco Buschmann (Justiz) und Bettina Stark-Watzinger (Bildung) übernahmen andere Minister ihre Aufgaben zusätzlich. Verkehrsminister Volker Wissing trat aus der FDP aus und blieb im Amt.
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Auch Scholz ist es am Mittwoch wichtig, dies zu betonen: „Bis zur Bildung einer neuen Koalition bleiben Bundesregierung und Bundestag voll arbeitsfähig.“ So sehe es das Grundgesetz vor. „Und das ist sehr richtig so. Das Leben geht ja immer weiter“, fügte der Kanzler hinzu. „Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch darauf, dass Bundestag und Bundesregierung, dass alle politischen Kräfte ihren Job tun und zum Wohl des Landes zusammenarbeiten.“
Nach der Vertrauensfrage: Die Regierung bleibt vorerst im Amt
Das heißt: Ruft der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Kanzleramt an, nimmt weiterhin Scholz ab. Tritt der künftige US-Präsident Donald Trump am 20. Januar sein Amt an, wird Scholz dem neuen Chef im Weißen Haus gratulieren.
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Auch im Kriegs- oder Krisenfall sind Innenministerin Nancy Faeser (SPD), Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) oder Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) voll handlungsfähig. Das in solchen Szenarios tagende Sicherheitskabinett ist von dem Bruch der Koalition und der von Scholz angestrebten Niederlage bei der Vertrauensfrage in seiner Handlungsfähigkeit nicht betroffen.
Die Restkoalition hat keine Mehrheit mehr im Bundestag
Der Kanzler und die verbleibenden Minister führen ihre Aufgaben fort, bis nach der vorgezogenen Bundestagswahl eine neue Bundesregierung ins Amt kommt. Das dürfte sich noch einige Monate hinziehen. Auf die Wahl am 23. Februar folgen Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen. Bis die abgeschlossen sind, könnte es April oder sogar Mai werden.
Ein Problem hat die verbleibende Regierung von Kanzler Scholz allerdings: Neue Gesetzesvorhaben wird sie nicht oder nur in Ausnahmen umsetzen können. Der Bundestag bleibt zwar in seiner jetzigen Zusammensetzung bestehen und kann jederzeit tagen und Beschlüsse fassen, bis nach der Wahl der neu gewählte Bundestag zusammentritt. Doch durch den Bruch der Koalition fehlen SPD und Grünen die Stimmen der FDP für eine Mehrheit im Bundestag.
Bundesverfassungsgericht: Fraktionsübergreifender Beschluss gegen AfD geplant
Die Restkoalition ist also auf Stimmen anderer Fraktionen angewiesen. Union und FDP haben deutlich gemacht, dass sie kein großes Interesse daran haben, SPD und Grünen zu Mehrheiten zu verhelfen. Ausnahme ist die verhandelte Stärkung des Bundesverfassungsgerichts, die noch vor Weihnachten im Bundestag beschlossen werden soll. Damit soll das oberste Gericht besser vor einer Einflussnahme der AfD geschützt werden. Union und FDP wollen das unterstützen.
Scholz nannte am Mittwoch weitere Projekte, bei denen er sich Unterstützung wünscht. Es gehe um „wenige, aber ganz wichtige Entscheidungen“, die keinen Aufschub duldeten. Der Sozialdemokrat nannte die Erhöhung von Kindergeld und Kinderzuschlag sowie die Finanzierung des Deutschlandtickets. Der Kanzler rief außerdem dazu auf, gemeinsam den Abbau der Kalten Progression bei der Steuer zu beschließen. „Wenn wir jetzt nichts dagegen tun, dann steigen die Steuern für alle Beschäftigten von Januar an, Lohnzuwächse wären dahin“, warnte Scholz. „Das können und wollen wir im Bundestag gemeinsam mit der Opposition verhindern.“
Kanzler ruft demokratische Opposition zum Schulterschluss auf
Zudem müsse verhindern werden, dass die Strompreise ab Januar steigen, indem die Netzengelte stabilisiert werden. „Für eine ganz normale Familie mit zwei Kindern machen all die geplanten Entlastungen übrigens schnell 80 oder 100 Euro im Monat aus“, sagte Scholz und rief die Abgeordneten im Bundestag dazu auf, diese Beschlüsse gemeinsam vor Jahresende zu fassen, um Arbeitsplätze zu sichern und die Bürger zu entlasten. „Ein Schulterschluss der demokratischen Mitte in diesen wichtigen Fragen wäre ein starkes Zeichen“, sagte der Kanzler. „Lassen Sie uns dieses Zeichen gemeinsam setzen.“
Die Union hatte es für eine Zusammenarbeit zur Bedingung gemacht, dass Scholz erst einmal die Vertrauensfrage stellt. Um sie zu gewinnen, müsste Scholz am Montag die absolute Mehrheit bekommen. In den vergangenen Wochen geisterte ein Szenario durch das politische Berlin, wonach die AfD Scholz im Amt halten könnte, wenn SPD und Grüne den Kanzler unterstützen. Die AfD ist für Winkelzüge bekannt – und könnte für die kuriose Situation sorgen, dass Scholz die Abstimmung gegen seinen Willen gewinnt.
AfD-Chef Chrupalla: Einzelne Abgeordnete wollen für Scholz stimmen
AfD-Chef Tino Chrupalla kündigte am Mittwochmorgen an, dass einzelne Abgeordnete seiner Fraktion für Scholz stimmen wollen. Als Begründung führte Chrupalla an, dass Friedrich Merz als möglicher Wahlsieger im Bundeskanzleramt aus Sicht der AfD das „schlimmere Übel“ sei, weil der Kanzlerkandidat der Union der Ukraine den deutschen Marschflugkörper Taurus liefern wolle. Der AfD-Chef bezeichnete die Abstimmung als „Gewissensfrage“, bei die Abgeordneten in ihrer Entscheidung frei seien.
Chrupalla fügte jedoch hinzu, dass die „große Mehrheit“ seiner Fraktion Scholz das Vertrauen nicht aussprechen werde. „Wir wollen Neuwahlen.“ Auch die Grünen machten einige Stunden später schließlich klar, dass sie ihren Beitrag für die Abstimmungsniederlage des Kanzlers leisten wollen. Die Fraktionsvorsitzenden Britta Haßelmann und Katharina Dröge teilten mit: „Wir schlagen der Fraktion vor, sich bei der Abstimmung zur Vertrauensfrage zu enthalten.“ Der gewünschten Niederlage des Kanzlers steht damit nichts mehr im Weg.
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