Wilstedt. Zehn Kolumbianer pflegen Demenzkranke, die Behörden lehnen ihre Asylanträge ab – eine Abschiebung droht. Der Fall zeigt ein deutsches Dilemma.
Dass Valentina Tascon kaum Deutsch spricht, ist kein großes Problem. Viele der Menschen hier im Speisesaal tun es auch nicht mehr. Sie schweigen, manche können gar nicht reden, andere nur noch Laute ausstoßen. Über die Lautsprecher laufen Schlager, sonst ist es still. Tascon kratzt mit einem Löffel den Rest Rote-Bete-Suppe in einen Eimer, stapelt die Plastikbecher in einem Fach. Dann geht sie an den Tisch von Herrn L., schiebt ihn im Rollstuhl langsam in Richtung Flur. Herr L. trägt einen roten Helm. Wenn er stürzt, schützt das Polster seinen Kopf.
Valentina Tascon fährt Herrn L. in sein Zimmer am Ende des Gangs. Auf dem Flur im Erdgeschoss riecht es vor manchen Räumen säuerlich nach Urin. Viele Bewohner wissen nicht mehr, dass sie die Toilette nutzen können, einige schmeißen stattdessen ihre Wäsche in die Kloschlüssel. Pflegerinnen wie Tascon wischen Ausscheidungen weg, wechseln Windeln, die hier bei den Erwachsenen „Vorlagen“ heißen. Aber gegen den Geruch sei nur schwer anzukommen.
Kolumbier pflegen Demenzkranke in Deutschland – nun droht die Abschiebung
Vor den Türen sind Foto-Collagen angeklebt, ein Bild eines Lastwagens, Marke Scania, ein Foto von einem Sonnenuntergang, von einem Golden Retriever. Die Bewohner des Heims brauchen die Bilder, um ihr Zimmer wiederzuerkennen. Vor der Tür von Herrn L. klebt ein Bild von Werkzeugen, Hammer, Zange, daneben ein Rasenmäher. Herr L. war jahrelang Handwerker. Nun ist er schwer an Demenz erkrankt.
Hier im Pflegeheim in Wilstedt bei Bremen ist Herr L. abhängig von Menschen wie Valentina Tascon, 25 Jahre alt. Seit einem dreiviertel Jahr lebt die Kolumbianerin in Deutschland, seit zwei Monaten arbeitet sie hier in der Einrichtung von Andrea und Tino Wohlmacher. Die Wohlmachers sind begeistert von Tascon, wie schnell sie lerne, und davon, wie sorgsam sie mit den dementen Bewohnern umgehe. Das Problem für Tascon, für die Wohlmachers und vor allem für Herrn L. ist: Niemand weiß, wie lange Valentina Tascon noch hier sein darf.
„Meine zehn Kolumbianer zahlen die Rente von drei Deutschen“
Sie soll Deutschland verlassen, ihr Asylgesuch wurde abgelehnt, ein Aufenthalt zum Arbeiten rechtlich ausgeschlossen. Doch nicht nur sie – auch Diego und Maria Arenas, auch Andres Garcia und Karen Mosquera müssen gehen. Insgesamt zehn Menschen aus Kolumbien pflegen bei den Wohlmachers, alle Vollzeit angestellt, verdienen 2700 Euro brutto. Es ist ein Drittel der Belegschaft. Mit dem Gehalt des Heims können sie sich eine eigene Mietwohnung leisten, zahlen Steuern und Sozialbeiträge. „Meine zehn Kolumbianer zahlen die Rente von drei Deutschen“, sagt Wohlmacher.
Doch ihnen allen droht die Abschiebung – und damit baut sich vor den Besitzern des Heims auch die Frage auf: Wie soll es hier in Wilstedt in Zukunft weitergehen? Mit dem Heim, vor allem aber den knapp 50 Bewohnerinnen und Bewohnern wie Herrn L.
Tino Wohlmacher breitet im Flur des Heims ein Plakat aus. Er will es gleich am Zaun draußen aufhängen. „Stoppt die Abschiebung unserer Pflegekräfte!“, steht dort. Dazu ein Link zu einer Petition. Bisher haben mehr als 50.000 Menschen unterzeichnet. „Die sind an den Falschen geraten“, sagt Wohlmacher. Mit „die“ meint er die Behörden, und je länger man mit ihm spricht, desto mehr wächst seine Wut über „die“.
Abschiebung von Arbeitskräften kein Einzelfall
Wohlmacher hat einen Artikel auf den Bürotisch gelegt, mit dem vor einigen Tagen alles begann. „Pflegekräften droht Abschiebung“, titelt die Zeitung. Seitdem klingeln täglich Journalisten bei ihm und seiner Frau. Das Fernsehen schickt Kamerateams, ein Sender will eine ganze Dokumentation drehen. Angehörige der Bewohner haben Angst. Andere Kolumbianer melden sich, bitten um Rat, weil sie in der gleichen Lage stecken. Aber auch ganz normale Bürger rufen an, sind fassungslos. Gerade hat Wohlmachers Büroleitung wieder eine Frau an der Strippe.
Firmen hätten angerufen, gleiche Probleme beschrieben. So liegt der Fall aus dem kleinen Wilstedt längst im Bundesinnenministerium, der Migrationsbeauftragte der Regierung, Joachim Stamp, ist eingeschaltet. Auch die niedersächsische Landesregierung. Denn Abschiebungen sind Ländersache.
Die Geschichte von Tascon, Arenas und den anderen kolumbianischen Pflegekräften ist deshalb so brisant, weil sie ein Dilemma der deutschen Politik wie im Brennglas zeigt: Einerseits fehlen Fachkräfte. Im Jahr 2035 könnten knapp 1,8 Millionen offene Stellen im Gesundheitswesen nicht mehr besetzt werden, legen Analysten nahe. Bis 2049 werden voraussichtlich mindestens 280.000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt, schreibt das Statistische Bundesamt. Die Regierungen finanzieren „Anwerbeprogramme“, um Menschen wie Valentina Tascon ins Land zu holen – auch in Lateinamerika.
Einerseits. Andererseits wollen Regierungen in Bund und Ländern mehr und schneller abgelehnte Asylsuchende zurückschicken. Noch-Kanzler Scholz sprach von „Abschiebungen im großen Stil“, andere von „Abschiebe-Offensive“. Aktuell leben in Deutschland 220.000 ausreisepflichtige Ausländer. Viele von ihnen haben eine Duldung, weil ihnen Pässe fehlen oder ihr Heimatland sie nicht aufnimmt. Und doch müssen mehr als 40.000 Menschen das Land verlassen. Menschen wie Valentina Tascon.
Auch interessant
Deutschland will Arbeitskräfte, Deutschland will aber auch mehr abschieben
Die Asylanträge aus Kolumbien sind in den vergangenen Monaten stark angestiegen. Menschen aus dem Land können visafrei nach Deutschland fliegen. Mehr als 2000 Erstanträge auf Schutz waren es im ersten Halbjahr. Damit rutscht das Land in die „Top Ten“ der stärksten Asylherkunftsländer. Doch die Chance auf Schutz in Deutschland ist verschwindend gering. 2023 waren 3279 Menschen aus dem Land hierher geflohen, über 804 Asylanträge entschied das Bamf. Fünf wurden positiv beschieden. Das sind 0,62 Prozent.
Tascon erzählt, dass ihre Familie von Guerilla-Gruppen erpresst worden sei. Der Vater habe eine Firma besessen, die Milizen wollten Schutzgeld. Der Vater überschrieb das Geschäft an Tochter Valentina, dann suchten sie nach ihr. Tascon sei nach Ecuador geflohen, doch die Drohungen gegen die Familie hätten nicht aufgehört. Männer mit Uniformen und Waffen seien zum Haus der Eltern gekommen. „Ihr sei gesagt worden, sie solle zahlen, sonst werde sie umgebracht“, erklärt Tascon laut Bescheid des Bamf, der unserer Redaktion vorliegt.
Doch aus Sicht des Bundesamts reicht das nicht für einen Schutztitel in Deutschland. Es gebe sichere Regionen in Kolumbien, schreibt die Behörde. Tascon ist studierte Bauingenieurin, sie könne mit einer anderen Arbeit abseits des Familienbetriebs ihren Lebensunterhalt sichern, urteilt das Amt.
Läuft die Frist ab, kann die Polizei mit Gewalt abschieben
Das Bamf stellt ihr eine Frist zur Ausreise, 30 Tage. Kommt Tascon der Aufforderung nicht nach, dürfe sie nicht noch einmal nach Deutschland einreisen. Geht sie nicht freiwillig, kann die Ausländerbehörde Polizisten vorbeischicken – und sie mit Gewalt abschieben. Genauso wie die anderen kolumbianischen Pflegekräfte. Bei einigen von ihnen laufen die Fristen zur freiwilligen Ausreise nun ab. Oder sind es schon.
Die Wohlmachers haben sich einen Anwalt besorgt, haben Klage eingereicht gegen einige der Beschlüsse. Zwei Fälle liegen bei der Härtefallkommission des Landes in Hannover. Bisher habe niemand reagiert, sagt Wohlmacher. Er sagt, er brauche die Aufmerksamkeit der Medien, um den Druck auf die Behörden hochzuhalten. Wohlmachers Sorge ist: Wenn niemand mehr berichtet, kommt die Polizei und holt die Kolumbianer. „Aber dann mache ich von meinem Hausrecht Gebrauch. Hier kommt niemand rein.“ Zur Not, sagt Wohlmacher, schlafen sie in einem der freien Zimmer im Heim. Aus einem abgelehnten Asylbescheid ist für die Wohlmachers längst ein Kampf geworden.
Und auch für die Bundesregierung geht es mehr als um den Fall von Wilstedt. Joachim Stamp, Migrationsbeauftragter im Bundesinnenministerium, sagt im Gespräch mit unserer Redaktion, er habe aufgrund der wachsenden Flüchtlingszahlen eine „umfassende Migrationspartnerschaft“ mit der kolumbianischen Regierung verabredet. „Es braucht jetzt ein klares Signal in Kolumbien, dass Asyl der falsche Weg ist, um in Deutschland sein Glück zu finden“, sagt der FDP-Politiker.
Asylantrag oder Arbeitsvisum? Es ist kompliziert
Hat Valentina Tascon nur den „falschen Weg“ gewählt? Hätte sie statt Asyl ein Arbeitsvisum beantragen sollen, auch wenn sie sich verfolgt fühlt? Und warum kann sie nun kein Visum mehr beantragen und weiter demenzkranke Menschen in dem Heim in Wilstedt pflegen? Wer Antworten auf diese Fragen sucht, muss in das komplizierte Paragrafengeflecht des Aufenthaltsrechts eintauchen.
Grundsätzlich gibt es zwei „Spuren“ nach Deutschland: zum einen den Weg über das Asylrecht, zum anderen die Fachkräfteeinwanderung über Arbeitsvisa. Diese Spuren waren lange strikt getrennt. Deutschland will verhindern, dass abgelehnte Asylsuchende trotzdem einfach bleiben können, wenn sie sich nur einen Job suchen. Die Sorge: Eine solche Politik schaffe enorme Anreize unter Flüchtlingen, nach Deutschland zu kommen – egal, ob sie verfolgt sind oder nicht. Egal, ob sie Fachkraft sind oder nicht.
Zugleich sieht sich die Regierung konfrontiert mit Tausenden Geflüchteten, die in Warteschleifen der Asylverfahren hängen oder nicht abgeschoben werden – und trotzdem gute Arbeit leisten könnten. Darauf hat die Ampel-Koalition reagiert. Das SPD-geführte Bundesinnenministerium verweist auf Nachfrage auf mehrere Paragrafen. Zum Beispiel Artikel 10. Wenn ein Asylsuchender seinen Antrag zurückzieht, darf ein Aufenthaltstitel erteilt werden. Allerdings muss er trotzdem erstmal ausreisen. Und das gilt nur für Menschen, die vor April 2023 einreisten.
Oder Paragraf 16, der bestimmt, dass Asylsuchenden eine „Duldung“ ausgesprochen werden kann, wenn sie eine Berufsausbildung antreten und noch andere Voraussetzungen erfüllen. Vor allem Ausreisepflichtige, deren Duldung über Jahre immer wieder verlängert wird, bekamen nun besseren Zugang zum Arbeitsmarkt – und einen Aufenthaltstitel. Allerdings gilt das nur für Personen, die vor November 2017 eingereist sind. Die Kolumbianerinnen und Kolumbianer in Wilstedt kamen erst viel später. Und auch für andere Lücken im Aufenthaltsrecht sind sie noch nicht lange genug in Deutschland.
Und so wird deutlich: Die Bundesregierung will Menschen wie Valentina Tascon nicht hierbehalten. Vielmehr sollen anerkannte Flüchtlinge schneller in den Arbeitsmarkt integriert werden, teilt das Innenministerium mit. Den „Spurwechsel“ vom „System Asyl“ ins „System Arbeit“ will die Regierung weiterhin grundsätzlich verbieten.
Eine Rückkehr ist möglich – doch zuerst geht es nach Kolumbien
Tascon könnte ihren Asylantrag zurückziehen, freiwillig zurückreisen nach Kolumbien, einen Antrag für ein Arbeitsvisum in der deutschen Botschaft in Bogota stellen. Die Visastelle dort hat 2024 bisher knapp 1500 Dokumente für eine Erwerbstätigkeit in Deutschland erteilt. Doch die Bearbeitung kann Monate dauern. Menschen wie Tascon sehen sich zudem in ihrer Heimat bedroht, wollen nicht zurück. Und das alles, um dann wieder in Wilstedt arbeiten zu dürfen.
Der Fall aus Wilstedt ist sensibel. Jede Entscheidung der Behörden vor Ort in Niedersachsen, aber auch jede Äußerung in Berlin könnten bis nach Bogota wirken – Menschen könnten sich auf die Reise machen. Deshalb sind Wohlmachers Pflegekräfte längst Politikum, über das die Behörden ungerne sprechen.
„Das ist das Zuhause dieser Menschen“
Und auch die Regierung in Kolumbien fürchtet, so heißt es in Berlin, dass Deutschland und andere EU-Staaten auf die wachsenden Asylzahlen reagieren – und die Visafreiheit abschaffen. Das wäre bitter für das südamerikanische Land. Migrationsbeauftragter Stamp drängt darauf, Kolumbien als „sicheres Herkunftsland“ einzustufen. Das beschleunige die Asylverfahren deutlich, wie das Beispiel Georgien zeige. Stamp arbeite an „geeigneten Maßnahmen“, um „irreguläre Migration zu stoppen und gleichzeitig den geordneten Zugang von dringend benötigten Arbeitskräften zu verbessern“. Er sagt, Kolumbien sei mit einem guten Ausbildungsniveau und kultureller Nähe „ein wichtiger Partner“ für Deutschland.
Für Menschen wie Valentina Tascon kann das zu spät kommen. Und auch für die Heimbetreiber Tino und Andrea Wohlmacher. Das Ehepaar überlegt schon, was es ohne die Pflegerinnen und Pfleger aus Kolumbien machen soll. Neue Arbeitskräfte einstellen? Der Markt ist leergefegt. Oder weitermachen, aber Bewohnerzahl reduzieren? „Wen soll ich denn hier einfach vor die Tür setzen?“, fragt Andrea Wohlmacher. „Das ist das Zuhause dieser Menschen.“
Lesen Sie auch: Asyl und Abschiebungen – Mehr Ehrlichkeit, bitte!